Während Präsident Emmanuel Macron fest entschlossen ist, seine unpopuläre Pensionsreform durchzusetzen, sind es auch die Gegner des Gesetzes. Neue Termine für Streiktage, an denen das Land blockiert wird, stehen schon.
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In der Menge fühlt es sich trotz der kalten Temperaturen ein bisschen an wie eine große Feier. Man hört es tröten und pfeifen, der Geruch gebratener Würstel weht durch die Luft und Menschen verschiedenen Alters drängen sich nahe aneinander. So als warteten sie auf den Anpfiff eines Fußballspiels oder auf die Ankunft eines Popstars.
Doch der Grund, warum Emilie, Frederique, Roland und tausende weitere Menschen hier im Pulk ausharren, ist kein fröhlicher. Auf den Platz der Republik in Paris hat sie die Empörung über die als unsozial empfundene Politik von Emmanuel Macron getrieben, vor allem die Pläne des französischen Präsidenten zur Reform des Pensionssystems. Bis 2030 soll das gesetzliche Pensionseintrittsalter von 62 auf 64 Jahre schrittweise steigen. Eine bereits seit 2013 bestehende Regel, nach der die Menschen in Frankreich für eine abschlagsfreie Pension 43 Jahre lang in die Kassen einzahlen müssen, wird beschleunigt.
Sie sehe sich nicht bis zum Alter von 64 vor einer Klasse stehen, sagt Emilie, Lehrerin in der nordwestlichen Stadt Laval. "Den ganzen Tag von unseren Schülern beansprucht zu werden, meist im Stehen oder auf kleinen Hockern, im Schulhof oder einer Turnhalle - das wird mit einem Rollator schwierig." Das Lehrerpersonal kam besonders zahlreich zum ersten Demonstrations- und Streiktag, zu dem die acht größten Gewerkschaften in der letzten Woche aufriefen. Mit landesweit ein bis zwei Millionen Teilnehmern, darunter rund 80.000 in Paris, handelte es sich um die größte Protestbewegung seit 2010. Damals erhöhte Präsident Nicolas Sarkozy das Pensionsalter von 60 auf 62 Jahre - trotz des massiven Widerstands.
Nun wollen die Reformgegner den Druck aufrechterhalten. Am nächsten Dienstag werden erneut Schulen, Ämter und Raffinerien geschlossen bleiben, Züge, Flüge, Busse und Metros ausfallen. Die sozialistische Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, hat angekündigt, "aus Solidarität" ihr Rathaus zu schließen.
Frankreich stellt sich damit auf eine Kraftprobe zwischen einem Teil der Bevölkerung und der Regierung ein. Weil diese die Reform als Nachtragshaushalt für die Sozialversicherung durch das Parlament schleusen will, können beide Kammern höchstens 50 Tage darüber debattieren. Verweigern sie die Zustimmung, gibt es für die Premierministerin Elisabeth Borne die Möglichkeit, das Gesetz über den Sonderparagrafen "49.3" zu beschließen, verbunden mit der Vertrauensfrage.
Den Reformgegnern bleiben damit rund zwei Monate. "Wenn wir nochmals kommen müssen, kommen wir eben wieder", sagt Frederique, die zum ersten Streiktag vor einer Woche mit ihrem Mann aus dem nördlichen Departement Orne nach Paris fuhr. Ihr Gemischtwarengeschäft machte die 43-Jährige für diesen Tag zu. Die Baustellen ihres Ehemanns, einem Bauunternehmer, standen still. Rund 1.000 Euro kostete die Familie ein Streiktag. "Das ist finanziell hart, aber eine Investition für später", erklärt Frederique, die auch das Wort für ihren Mann ergreift. "Schauen Sie ihn an: Er ist körperlich kaputt, seine Schultern sind verkalkt. Der Arzt hat ihm dazu geraten, den Beruf zu wechseln, und da will die Regierung, dass er noch länger arbeitet?"
Macrons Ruf als Reformer leidet
Wie Frederique lehnt eine große Mehrheit der Franzosen Macrons Pläne ab. In Umfragen sprechen sich bis zu 72 Prozent gegen das Gesetz aus. Fast ebenso viele glauben aber, dass es durchgeht. Macron hat die Pensionsreform vor seiner Wiederwahl vor einem Jahr unmissverständlich angekündigt. Es gelte, in den nächsten Jahren ein gefährliches Defizit zu verhindern und das Umlagesystem zu konsolidieren, sagte der Präsident damals. Entsprechend beruft sich Macron heute auch darauf, dass ihm das Mandat für die Reform erteilt worden ist. Und die Regierung setzt darauf, dass die öffentliche Meinung gegen die Streikenden kippt und die Mobilisierung nachlässt, spätestens mit den Schulferien im Februar, wenn Zugausfälle besonders stören.
Die Alterssicherungssysteme wollte Macron bereits von drei Jahren reformieren. Damals plante er, die 42 bestehenden Regeln für verschiedene Berufsgruppen in einem allgemeinen Punktesystem aufgehen zu lassen und etliche Privilegien abzuschaffen. Monatelang wurde das Land blockiert. Macron blieb standhaft - doch bei Ausbruch der Corona-Pandemie zog er das Gesetz zurück, nicht ahnend, dass der Ukraine-Krieg und die Inflation erneut für unsichere, schwierige Zeiten sorgen würden.
Umso höher sei nun sein Einsatz, sagt Frederic Dabi, Generaldirektor des Meinungsforschungsinstitutes Ipsos. "Weicht er zurück, wäre das ein sehr schwerer Schlag für seinen Ruf als Reformer." Seit seiner Wiederwahl werde Macron als "inaktiver Präsident" getadelt, der sich nur um internationale Krisen statt um die Modernisierung des Landes kümmere. "Die Pensionsreform ist eine Waffe, um diese Kritik zum Schweigen zu bringen", sagt Dabi.
Einen wichtigen Unterschied gibt es allerdings. Als Macron sich die Pensionsreform zum ersten Mal vornahm, hatte er die moderate Gewerkschaft CFDT hinter sich. Nun aber stellt sich CFDT-Chef Laurent Berger gegen die Pläne und weist dabei vor allem auf die niedrige Arbeitsmarktbeteiligung der Älteren in Frankreich hin: Über 50-Jährige finden nur noch schwer einen Job, zwischen 55 und 59 Jahren arbeitet gut jeder Vierte nicht mehr, zwischen 60 und 64 ungefähr jeder Dritte. Auch das Argument, Macrons Pläne seien demokratisch abgesegnet, lässt Berger nicht gelten. Er habe vor der zweiten Runde zu einer Wahl des Amtsinhabers aufgerufen, um die Rechtsextreme Marine Le Pen zu verhindern, sagt der CFTD-Chef "Aber das war kein Blankoscheck für sein Programm."
Piketty sieht Ungerechtigkeiten
Weitere Zweifel sähen Ökonomen wie der Bestseller-Autor Thomas Piketty, denen zufolge die Reform in finanzieller Hinsicht gar nicht nötig sei. Der Bericht eines Expertengremiums sehe zwar ein Defizit der Pensionskasse in den nächsten Jahren kommen, bedrohlich sei es aber nicht. Piketty wirft Macron in diesem Zusammenhang auch vor, ein "Präsident der Reichen" zu sein. Durch die Reform bestraft würden die Nicht-Akademiker, die früh ins Berufsleben einsteigen. Aus Pikettys Sicht verfängt auch das Argument, Frankreich habe keine andere Wahl, als seinen europäischen Nachbarn zu folgen, nicht, da kein einziges Land "die immensen sozialen Ungleichheiten berücksichtigt". Tatsächlich liegt die Altersarmut in Frankreich bei 6,9 Prozent, in Deutschland bei über 65-Jährigen bei 17,4 Prozent. Auch gehört Frankreich zu den wenigen Ländern, in denen die Pensionisten insgesamt ein höheres Lebensniveau haben als die arbeitende Bevölkerung.
Die Reform wird aber auch von besonders vielen jungen Leuten ablehnt. Wie etwa dem Studenten Roland, der sagt, er werde sowieso spät zu arbeiten aufhören, demonstriere aber aus Solidarität mit körperlich anstrengenden Berufen. "Die Regierung muss zurückweichen", sagt Roland. Das französische Armdrücken hat gerade erst begonnen.