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Frau Frühwirths Nachbarn

Von Clemens Neuhold

Politik
Frau Frühwirth und ihr Mann haben 3500 Nachbarn - aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder Somalia.
© Clemens Neuhold

Hunderttausende Flüchtlinge ziehen seit 60 Jahren am Gartenzaun der Traiskirchnerin vorbei. Etwas ist heute anders.


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Wien. Eine Oleanderparade führt vorbei am englischen Rasen in den Hof mit seinem bäuerlichen Stillleben. Der Großvater baute Wein an. Die nahen Weinberge der Thermenregion sah er aber nicht. Die sanfte Hügelkette, die im Morgentau besonders schön glitzert, war verstellt von den Betonklötzen der Artillerieschule der k.u.k. Armee. Später raubte ihm die Nazi-Kaderschmiede Napola die Sicht. Dann zogen die Russen auf das riesige Areal. Nun ziehen keine Soldaten mehr am Haus vorbei, sondern Flüchtlinge. Hunderttausende. Seit Jahrzehnten. Unter den Augen der Enkelin Annemarie Frühwirth, die seit 1966 hier wohnt, und gleich um die Ecke arbeitete. Erinnern kann sie sich an Besuche während der Ungarnkrise 1956. Dann kamen Tschechen, Polen, Bosnier, Kosovaren, Tschetschenen, Menschen aus dem Rest der - von Krieg und Elend - zerrissenen Welt.

Die Welt vor der Haustüre

Frau Frühwirth und ihr Mann wohnen hier mit 3500 Nachbarn - aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder Somalia. Passieren diese Gestrandeten die Schleuse aus dem Lager mit seinen stickigen Bettenhallen und verbrannten Wiesen, fällt der erste Blick auf das saftig grüne Idyll der Frühwirths, wo sich keine Menschen im Freien unter Decken krümmen. Verlässt die Pensionistin ihr Haus und lehnt sich auf den durchsichtigen Eisenzaun, fällt ihr erster Blick auf Frauen, die in bunten Tüchern aus dem Lager kommen, und auf junge Männer, die durch die Straßen schlurfen und auf ihre Handys starren.

Die Ersten pilgern in die türkische Moschee, die 500 Meter entfernt ist und die Flüchtlinge - es ist Ramadan - nach dem Sonnenuntergang mit der ersten Tagesmahlzeit verköstigt. Rund 2000 Speisen aus Spenden sind es pro Tag. Bis 22 Uhr müssen sie zurück ins Lager - vorbei an Frau Frühwirth. Gleichmütig und entspannt wirkt sie - ihr Blick auf diese Welt vor ihrer Haustür ist ein starker Kontrast zum Bild, das sich viele von Traiskirchen machen.

Zwischen Ramadan und Muezzin

Ein Massenquartier in der Nachbarschaft voll mit jungen Männern, die noch dazu Muslime sind? Manchen wäre schon der Muezzin zu viel, der ab 3.30 Uhr von der Moschee aus rüber ins Lager ruft. "In den Orient muss i nimma fahren", sagt die 71-Jährige und lächelt.

"Wir sind geeicht. Und am meisten Angst haben ja die Leut’, die nix mit den Flüchtlingen zu tun haben." Ihr Tor ist offen. Immer. "Auch die Haustür sperr’ ich erst in der Nacht zu." Schräg gegenüber ist der Polizeiposten. Sie fühlt sich absolut sicher.

"Ich wundere mich ja, warum es noch so friedlich ist. Junge Männer sind dazu gemacht, die Welt niederzureißen und nicht wie alte Männer den ganzen Tag auf der Bank zu sitzen. Und so ordentlich, wie sie sich nach der Rückkehr vom Fastenbrechen anstellen, das würde man sich von Österreichern wünschen." Den hinteren Gartenzaun haben Jugendliche ruiniert, aber nur, weil sie aus Fadesse darauf wippten.

Mit Müll-Aufstand wieder eine Ruhe

"Es war schon viel ärger", erinnert sie sich an den Kosovo-Krieg. Ein Polizei-Sonderkommando musste verfeindete Communities trennen. Keine so angenehmen Erinnerungen hat sie auch an die Flüchtlingswelle aus Tschetschenien Anfang 2000. "Damals landete Dreck im Garten, darunter Spritzen oder gebrauchte Kinderwindeln. Ich hab das eingesammelt und drüben vor den Eingang geschmissen. Dann hab ich gedroht, das so lange zu tun, bis ein Politiker kommt und ich ihm das Packerl vor die Füße werfe. Und sauber war’s wieder."

Die Mülltonne hat sie von der Straße jetzt weggestellt. "Die war nach einem Tag voll." Kein Wunder. Denn wegen der Überfüllung des Erstaufnahmezentrums übernachten Menschen auch auf dem Rasenstreifen direkt vor der Türe. "Als Kopfpolster den Randstein, die Füße halb auf der Straße. Das gab’s früher nicht. Nach drei Tagen hatten sie drinnen einen Platz." Vom Polizeiposten aus brettert die Polizei mit Blaulicht am Lager vorbei. "Viel zu schnell. Die führen noch einmal ein Kind nieder", sorgt sich Frühwirth um die anonymen Nachbarn, die sie bald nie wieder sehen wird.

Enttäuscht von ihrem Präsidenten

Zornig wird Frau Frühwirth, wenn man sie auf Politik anspricht. "Am Mittwoch kamen Postbusse. Wir dachten, jetzt bringen sie Asylwerber in andere Quartiere." Doch die Busse dienten als Schutz der Obdachlosen vor dem Umwetter. Ein weiterer Beweis für die hilflose Politik. "Wenn die Ministerin nix zusammenbringt, ist der Bundeskanzler dran; und wenn der nix zusammenbringt, der Bundespräsident. Er ist Oberbefehlshaber über das Bundesheer und kann die Kasernen nicht öffnen? Das gibt es doch nicht", sagt Frühwirth. "Stattdessen fährt er zu den Salzburger Festspielen." Auch von der Kirche ist sie enttäuscht. "Was ist mit den Klöstern, wo sieben Pater wohnen?" Blitzen aus der anonymen Menschenmasse, die Frau Frühwirth seit Jahrzehnten vor der Nase hat, noch die Menschen durch? "Neulich hockerlte ein junger Bursch auf dem Gehsteig. Er schaute zu mir und sagte ,Mama‘. Das hat mich berührt."