"Mainstream ist kulturelle Macht"
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Wiener Zeitung:
Herr Martel, wie definieren Sie Mainstream?
Frédéric Martel: Mainstream ist Massenkultur, Unterhaltung, Kultur, die allen gefällt. Zum globalen Mainstream gehören Avatar, Toy Story, Lady Gaga, Michael Jackson, Dan Brown und Google. Mainstream kann aber auch eine nationale oder regionale Kultur sein. In Frankreich ist Johnny Hallyday Mainstream, weil ihn dort jeder kennt; in Indien Bollywood-Filme mit Stars wie Ami-tabh Bachchan und Shah Rukh Khan, in arabischen Ländern Fernsehserien, die während des Ramadan laufen.
Die USA dominieren seit Jahrzehnten die globale Massenkultur. Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, die USA exportieren jedes Jahr zehn Prozent mehr kulturelle Produkte und Dienstleistungen; Europa, das noch an zweiter Stelle steht, jedes Jahr zehn Prozent weniger. Was hätten wir davon, wenn wir mehr Mainstream produzieren?
Erstens bringt es Geld, Arbeitsplätze und Perspektiven für die Kreativen - und zweitens "soft power", das heißt, Macht, die durch Ideen und Weltanschauungen, Worte und Bilder ausgeübt wird. Diese Art der kulturellen Diplomatie hilft einem Land, in der Welt zu bestehen.
Warum gelingt das den USA offenbar besser als allen anderen?
Der große Vorteil der US-Kulturindustrie ist, dass Entertainment und Gegenkultur oft eng verzahnt sind. Das Ergebnis ist Innovation, Risikobereitschaft und Talentförderung auf allen Ebenen. Für weltweiten Erfolg braucht man die richtige Mischung aus Kunst und Popkultur, aus Elementen für Kinder und Erwachsene. In Europa wollen viele die staatlich geförderte Hochkultur gegen die von der Wirtschaft finanzierte Unterhaltung abschirmen. Aber es ist doch so: Wenn ein Land mit Mainstream erfolgreich ist, hat es auch genügend Geld, um eine Gegenkultur zu nähren.
Um globalen Mainstream zu produzieren, muss man sprachliche und inhaltliche Anspielungen aufgeben, die nur im eigenen Kulturkreis verstanden werden. Und durch die Ballung des Kapitals bleiben Vielfalt und Unabhängigkeit auf der Strecke.
Wenn man die ganze Welt ansprechen will, über Generationen und Kontinente hinweg, ist man dazu verdammt, Formen und Werte auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen. Natürlich werden Filme wie "Avatar" für einen weltweiten Massengeschmack gemacht, und ohne die enormen Summen für Produktion und Marketing wäre ihr Welterfolg kaum möglich. Es sind aber auch viel komplexere Produkte, als man auf den ersten Blick glauben könnte.
Am erfolgreichsten sind also Produkte, die jeglicher kultureller Eigenarten beraubt sind?
Nicht unbedingt. Der Kinofilm "Amélie" mit Audrey Tautou, ein typisch europäischer Film, war international sehr erfolgreich. Der Schauplatz war Paris, die fantasievollen Elemente im Film, der Humor und die Irrungen und Wirrungen in der Liebesgeschichte haben jedoch Menschen auf der ganzen Welt berührt. Solche Erfolge sind aber leider Ausnahmen. Viele europäische Filme und Romane werden anderswo als sehr düster und selbstbezogen empfunden.
Sie sprechen vom "Weltkrieg um die Inhalte". In welchen Branchen ist Europa gut gerüstet?
In der Buchproduktion und in der Kunst: Im Avantgardetheater, beim zeitgenössischen Tanz, in der Bildenden Kunst, auch in Architektur, Fotografie und Design. Europa produziert durchaus auch Massenkultur: Der größte Verlag der Welt, Randomhouse, gehört dem deutschen Konzern Bertelsmann. In der Musik hat Frankreich Universal und Großbritannien EMI. Und Frankreich besitzt mit Activision Blizzard und Ubisoft die wichtigsten Hersteller von Video- und Computerspielen.
Ist es für eine nicht-englischsprachige Nation überhaupt möglich, Weltmarktführer in Sachen Massenkultur zu werden?
In vielen Schwellenländern spricht die Mehrheit kein Englisch, die Sprache ist also nicht ausschlaggebend. Aber bevor wir versuchen, Chinesen, Brasilianer oder Iraner zu erreichen, sollten wir an einer gesamteuropäischen Mainstream-Kultur arbeiten. Aktuell ist es doch so: Was auf Deutsch produziert wird, interessiert die Jugend in Frankreich nicht, und umgekehrt. Die einzige Kultur, die alle Europäer verbindet, ist die amerikanische. Übrigens geht es den lateinamerikanischen Ländern genauso - und das, obwohl dort fast alle dieselbe Sprache sprechen.
Wie stellen Sie sich eine gesamteuropäische Jugendkultur vor?
Wenn man die Kultur und die Sprache etwa der Algerier, Marokkaner und Tunesier in Frankreich - in Deutschland parallel die Kultur der Türken, in Österreich die der Osteuropäer - mehr wertschätzen würde, wäre unsere Kultur weniger selbstbezogen und würde auch andere Europäer mehr ansprechen. Die Erfahrungen eines Immigranten in Frankreich sind nicht so unterschiedlich von jenen eines Immigranten in Italien. Das könnte eine riesige Zielgruppe sein.
Mit steigendem Wohlstand und höherer Bildung wächst in den Schwellenländern wieder das Interesse an europäischer Hochkultur.
Die Schwellenländer produzieren noch nicht genug Inhalte, um ihren Bedarf selbst zu decken. Bisher bemühen sich vor allem die Amerikaner um diese Märkte. Sogar in muslimischen Ländern wie Indonesien, Ägypten oder im Iran kann man überall Raubkopien amerikanischer Blockbuster kaufen.
Gibt es Bereiche, in welchen Frankreich und der deutschsprachige Raum führend sind?
Es ist wenig bekannt, dass Formate für Reality Soaps und Talkshows aus Nord- und Westeuropa in alle Ecken der Welt verkauft werden. Frankreich ist sehr erfolgreich mit elektronischer Musik, Berlin zieht Künstler aus der ganzen Welt an, und London und Paris sind immer noch Zentren afrikanischer Weltmusik.
Für ihr Buch haben Sie in den Zentralen von Motown, Sony und Disney recherchiert, in Bollywood und im nigerianischen Nollywood, wo Filme mit kleinstem Budget gemacht werden, die aber in ganz Westafrika Mainstream sind. Sie waren in Venezuela beim panlateinamerikanischen Sender Telesur und in der Zentrale von Al Jazeera in Katar und haben sich den Erfolg des koreanischen Films und brasilianischer Telenovelas vor Ort erklären lassen. Was zeichnet die Kulturproduktion in diesen Ländern aus?
Zunächst einmal ist ihre größte Stärke die Demografie. Die Bevölkerung im arabischen Raum, in Brasilien und Indonesien ist extrem jung - und die Mittelschicht wächst. Eine gebildetere und breitere Mittelschicht will mehr Kultur. Und das Herz der Massenkultur sind die Menschen zwischen 12 und 35 Jahren - auch ein Grund, warum Europa und Japan zurückgefallen sind.
Wer macht den USA am meisten Konkurrenz?
Bisher ist noch kein Schwellenland als globaler Kulturproduzent hervorgetreten. Das ist auch nicht die höchste Priorität dieser Länder. Ihre Kulturindustrie ist sehr jung.
Vorläufig befriedigen sie die Nachfrage in ihrem Kulturraum. Koreanische Filme und K-Pop sind auch in China, Singapur, Japan, in Indonesien und auf den Philippinen sehr erfolgreich. Genauso wie libanesische und syrische Fernsehserien im arabischen Raum und türkische Serien in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Bollywood und bis zu einem gewissen Grad die brasilianischen Telenovelas sind die einzigen Industrien, die sich über den eigenen Kontinent hinaus gut verkaufen. Die anderen werden jedoch aufholen.
Dem "Exportweltmeister" China gelingt es bisher kaum, eigene Kulturprodukte über Taiwan, Singapur und Südostasien hinaus durchzusetzen. Wenn chinesische Kunst international bekannt wird, dann eher die regimekritische.
Um die Welt anzusprechen, muss man den Pluralismus und den Künstler mit all seinen Widersprüchen, seiner Rebellion, seiner Radikalität akzeptieren. Die Chinesen wollen "Avatar" produzieren, ohne die Risiken auf sich zu nehmen, ohne die ein solcher Film nicht entstehen kann. In China werden jedes Jahr nur zehn US-Kinofilme zugelassen; damit machen chinesische Kinos 50 Prozent ihres Umsatzes. Der amerikanische Anteil an illegalen Downloads und Raubkopien liegt noch viel höher. In Japan und Indien gibt es hingegen weder Zensur noch Quoten, dennoch werden nicht mehr als zehn Prozent US-Filme gezeigt. Warum? Die einheimische Filmproduktion trifft den Nerv der Jugend.
Wird sich die Kultur kleiner Länder auf Dauer behaupten können?
Ich denke schon. Der Kulturindustrie etwa in Italien, Thailand oder dem Libanon geht es gut, auch wenn die Produkte kaum exportiert werden. Jedes Land hat sein eigenes Fernsehen, seine eigene Literatur, Musik, Bildende Kunst. Langfristig wird es mehr große Zentren der Kulturproduktion geben. Neue Pole entstehen gerade in Rio de Janeiro, Mumbai, Hongkong, Beirut und in Südafrika. Eine neue geopolitische Karte der Massenkultur zeichnet sich also ab.
Frédéric Martel
Frédéric Martel, geboren 1967, ist Soziologe, Medienforscher und Journalist. Er hat für diverse französische Magazine geschrieben und mehrere Bücher veröffentlicht, unter anderem über Homosexuelle in Frankreich und über die Kultur in den USA. Von 2001 bis 2005 war er Kulturattaché in den USA, hat an Universitäten in Paris und New York gelehrt und ist (Mit-)Begründer des Kreativindustrie-Online-Magazins "inaglobal.fr" und des Büchermagazins "nonfiction.fr".
Sein neuestes Buch ist seit wenigen Wochen auf Deutsch erhältlich: Mainstream. Wie funktioniert, was allen gefällt. Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke und Ursel Schäfer, Knaus Verlag, München 2011, 512 Seiten.
Jeannette Villachica, geboren 1970, lebt als Kultur-, Literatur- und Reisejournalistin in Hamburg.