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Frei oder willig?

Von Judith Belfkih

Leitartikel
Judith Belfkih ist stellvertretende Chefredakteurin der "Wiener Zeitung".

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Wie frei der freie Wille nun sei - oder auch nicht -, das war über Jahrhunderte eine vorwiegend philosophische Debatte. Die zentrale Frage lautete dabei meist: Tut der Mensch, was er will? Oder will er (nur), was er tut? Der Unterschied zwischen beiden Optionen mag auf den ersten Blick klein erscheinen, bei näherer Betrachtung erweist er sich jedoch als grundlegend.

Zuletzt tauchte die Debatte jenseits der Geisteswissenschaft im Bereich der Hirnforschung auf, die den freien Willen des Menschen als Illusion zu enttarnen suchte. Der biochemische Prozess einer Entscheidung sei bereits abgeschlossen oder zumindest auf Hochtouren, bevor der eigene Wille überhaupt wahrgenommen werde, so die These. Das Argumente abwägende und einordnende Netz arbeitet demnach im Hintergrund des Bewusstseins. Das hieße: Der Mensch hat die Gabe, sich selbst Dinge, bei denen er ohnehin nicht wirklich die Wahl hat, zumindest als frei gewählt zu verkaufen. Die gute Nachricht: Hirnforscher haben ebenso nachgewiesen, dass der Mensch sehr wohl in der Lage ist, dieser unbewussten automatisierten Entscheidungsfindung entgegenzusteuern.

Abseits der wissenschaftlichen Thesen zeigen aktuell mehrere Themen, dass der freie Wille - genauer gesagt die Freiwilligkeit der Handlungen - zunehmend zu einer politischen Kategorie wird. Besser gesagt: zu einer legistischen. Im Falle des neuen deutschen Sexualstrafrechts etwa, wo ein Strafbestand besteht, wenn sich ein Täter oder eine Täterin über den "erkennbaren Willen" des Opfers hinwegsetzt. Oder in der Debatte um den 12-Stunden-Tag, der in Österreich zur Sondersitzung des Nationalrats und zu Warnstreiks geführt hat. Bei Mehrleistungen, so sieht der Gesetzgeber vor, ist "völlige Freiwilligkeit" der Mitarbeiter zu gewährleisten. Wie problematisch diese Formulierung ist, zeigen nicht nur erste Fälle, in denen diese nicht vorhandene Freiwilligkeit handfeste Konsequenzen für Arbeitnehmer hatte. Man müsse den Begriff "freiwillig" neu definieren, steht seither als sonderbare Forderung im Raum. Saisonverträge aus der Hotellerie, in denen der freiwillige Verzicht auf diese Freiwilligkeit beinhaltet war, trieben die Debatte zuletzt auf die Spitze der Absurdität.

Ein Staat, der alles regelt, der das Verhalten des Einzelnen in jeder Situation festlegt, entlässt seine Bürger aus der Eigenverantwortung. Mehr noch: Er entmündigt sie. Ein Staat jedoch, der sich in heiklen Fragen heraushält, der die Verantwortung alleine dem Einzelnen auflädt, verspielt eine seiner zentralen Aufgaben: die Schwächeren vor den Interessen der Mächtigen zu schützen. Letzteres ist ein modisches, vielerorts auftauchendes Symptom des Delegierens von Verantwortung. Mutiges politisches Handeln zeichnet es nicht aus.