Auch unser Essverhalten wird krisenanfällig, weil Gesundheitsaspekte zu sehr in den Vordergrund rücken und gleichzeitig der Vergnügungsfaktor vernachlässigt wird. - Es braucht wieder mehr Mut zum Genuss.
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Gesundheit wird als das höchste Gut des Menschen verkauft. Und viele glauben, das war schon immer so. Doch das ist nicht richtig. Gesundheit zu verabsolutieren ist ein Zeichen unserer Zeit. "Das Streben nach Gesundheit kompensiert die innere Glaubensleere unserer Gesellschaft", meint der österreichische Schriftsteller, Theaterregisseur und Filmemacher Walter Wippersberg. In Deutschland gehen mehr Menschen ins Fitnessstudio als in die Sonntagsmesse. Wippersberg spricht gar von einer "Gesundheitsreligion", die - wie banal - als einziges Ziel ein möglichst langes Leben hat, sich nur diesseitig orientiert.
Moral, Tradition und etablierte Religionen bilden keine stabilen gesellschaftlichen Werte mehr und halten keine allgemeingültigen Argumente gegen abweichendes Verhalten bereit. Der "Sünder" wäre ausgestorben, gäbe es nicht den gesellschaftlichen Imperativ zur Gesundheit. Johann Kinzl, Psychosomatiker an der Universitätsklinik Innsbruck, spricht vom "Foodamentalismus" und sieht diesen ebenfalls im Gesundheitswahn begründet. Das Essverhalten wird krisenanfällig, weil die Gesundheitsaspekte zu sehr in den Vordergrund rücken und gleichzeitig der Vergnügungsfaktor vernachlässigt wird. Es wird durch Vorschriften und eine Auswahl von "guten" und "bösen" Lebensmitteln gestört.
"Orthorexie"
Vor Jahren schon wurde dieses Phänomen wissenschaftlich beob-achtet und unter dem Begriff "Orthorexie" zusammengefasst. Dabei geht es um krankhaftes "richtig essen". Was sich bei den einen als Spleen entwickelt und noch als verschrobener Zugang zum Essen bezeichnet werden kann, mausert sich bei anderen zur veritablen Essstörung, die in ihrer Manifestation durchaus mit Anorexie (Magersucht) oder Bulimie (Ess-Brech-Sucht) mithalten kann.
Generell geht es aber weniger um die Tatsache, dass immer mehr Menschen aus verschiedenen Motiven heraus ihr Lebensmittelspektrum einengen. Verstörend ist der Gutmensch-Aspekt, das Missionarische und Ideologische daran.
"Es gibt kaum ein Gebiet, das stärker moralisiert wird als das Essen. Wir dürfen mittlerweile alle Formen der Sexualität durchspielen, aber das Essen ist einer immer stärkeren Restriktion unterworfen. Im 19. Jahrhundert durfte man außerhalb des Ehebettes keinen Sex haben, heute darf man eigentlich nichts mehr essen", meint der deutsche Ernährungspsychologe Christoph Klotter. Essen und Sex sind zwei Grundbedürfnisse und beide stehen sozusagen im Dienst der Art- und Selbsterhaltung. Beide sind mit Lust und Genuss verbunden, weil sie das Überleben der Art sichern. Beides wird von Anfang an an der Mutterbrust gelernt und ist höchst emotional. Beides war und ist gesellschaftlich einem starken Regelwerk unterworfen.
Doch während sexuelle Tabus nahezu alle gebrochen sind und zumindest dem Anschein nach das moralische Korsett aufgeschnürt ist, nimmt ein verkrampftes Essverhalten bis hin zu richtigen Essstörungen seit Jahrzehnten deutlich zu. Das liegt an der grundsätzlichen Problematisierung des Essens.
Wir leben in einer Verbots- und Verzichtskultur, wie es der Wiener Philosoph Robert Pfaller formuliert. Es sind die gesellschaftlichen und selbst auferlegten Verbote und Restriktionen, denen wir stets zu folgen versuchen. Wer sich heute "ungesund" verhält, zu viel isst, zu wenig Sport betreibt, wessen Körperform vom Ideal allzu sehr abweicht, wer zu viel raucht, Alkohol trinkt, nichts gegen Stress tut, seine Psyche vernachlässigt, Vorsorgeprogramme verweigert, und letztendlich der Gemeinschaft auf der Tasche liegt, weil sich Diabetes, Bluthochdruck, Depression oder Adipositas entwickelt haben, wird als unsozial gebrandmarkt - und steht am Pranger.
Paradoxe Verbote
Ein Bestandteil dieses kulturellen Systems ist auch die Einteilung von Lebensmitteln in "gesunde" und "ungesunde". Dabei ist gerade diese Schwarz-Weiß-Malerei kontraproduktiv. Denn Verbote wirken - doch selten haben sie den angestrebten Effekt. Oft sogar schlagen sie ins Gegenteil um. Der Ernährungspsychologe Christoph Klotter sagt dazu ganz klar: "Diese Aufschreie von schrecklich bösen Lebensmitteln finde ich absurd. Sie laden zum Gegenteil ein. In dem Augenblick, in dem ich etwas dämonisiere, wird es attraktiv. Die Überschreitung des Verbots macht den Genuss".
Wie bei allen Verboten, verhält es sich eben auch beim Essen so: Die Tabus sind interessant. Ernährungswissenschafter können nicht oft genug darauf hinweisen, dass eine Einteilung in "gesunde" und "ungesunde" Lebensmittel nicht möglich ist. Die Summe macht’s: Kein einziges Produkt alleine macht gesund oder krank. Es ist immer die gesamte Ernährungsweise und der Lebensstil.
Angst vor allem
Dennoch bestimmt derzeit die Moralität den Lebensstil und formt mitunter Ängste. Angst vor dem Zu-Dick-Werden, Angst davor, etwas falsch zu machen, Grenzen zu überschreiten, sich gehen zu lassen. Dazu kommen Ängste, die mitunter mit der Entfremdung von der Lebensmittelproduktion zu tun haben: die Angst vor Pestiziden, vor Zusatzstoffen, vor zu viel Technologie, vor Täuschung. Auf Angst gründet ein verkrampfter, unentspannter Umgang mit dem Essen.
Als Folge können viele Menschen nicht mehr genießen. Sie glauben, gesünder, schlanker und schöner zu werden, wenn sie ihr Leben und damit auch ihre Ernährung, ihre körperliche Aktivität, ihre Seele, ihr Arbeitsdasein nur noch funktionsbetont und rational angehen. Sie entwickeln ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich etwas gönnen. Sie "sündigen" anstatt zu "genießen". Im Österreichischen Genussbarometer waren das 68 Prozent, dazu kommen rund 17 Prozent, denen Genussverhalten überhaupt keine Ressource ist. Sie berauben sich selbst einer positiven Quelle der Lebensqualität.
Die Dosis macht’s
Dabei ist die Antwort auf die Frage nach dem "gesund" immer die gleiche: Es kommt darauf an. Meistens nämlich auf die Menge. Das hat bereits Paracelsus im 16. Jahrhundert auf den Punkt gebracht: "Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift, allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei." In der richtigen Menge kann also eine Substanz ein Heilmittel sein, im Übermaß aber ein Gift. Dazwischen sitzt der sogenannte qualitative Sprung. Das rechte Maß ist also kein reines Quantum: Es ist ein Qualitativum.
Genießen steht also schon deswegen nicht mit einem "gesunden" Ess-Stil im Widerspruch, weil es dabei nicht um maßloses Konsumieren geht, nicht um gieriges Verschlingen und auch nicht um Sucht, sondern um die Konzentration aufs Wesentliche. Es geht darum, mit geschärfter Aufmerksamkeit unseren Sinnen nachzuspüren, unsere Bedürfnisse zu stillen, uns Zeit zu nehmen und für sich selbst gut zu sorgen.
Es ist etwas höchst Individuelles. Für jeden bedeutet es etwas anderes und jeder braucht etwas anderes. Erlebt der eine Glücksgefühle, wenn er aufs Meer schaut und ein Glas Wein trinkt, ist für den Anderen ein zwei-Stunden-Lauf pure Freude oder für den Nächsten stundenlanges Zeitunglesen oder nur für eine Minute die Sonnenstrahlen auf der Haut zu spüren oder eben ein gutes Essen, eine Tasse Kaffee, ein Stück Schokoladekuchen. Manche holen sich aus dem Alltag die Kleinigkeiten heraus, andere laufen an ihnen vorbei.
Ist die Fähigkeit für das bewusste Wahrnehmen und Innehalten angeboren? Oder können wir sie trainieren? Müssen wir sie gar trainieren? Nur an den Genen kann es nicht liegen. Es gibt Kinder, die als kleine Feinspitze auf die Welt kommen und deren Geschwister eher nach dem Motto "Hauptsache von überall viel" leben. Die Forschung ist sich noch nicht ganz im Klaren, ob und welche Prägung darüber entscheidet.
Glückliche Genießer
Genießen können ist jedenfalls eine Gabe, lässt sich aber auch lernen und kann durchaus als Lebenshaltung gesehen werden. Wenn man so will, ist es die innere Richtschnur, die einem in der Überfülle an Information und Angebot hilft, entspannt zu entscheiden und zu handeln - frei von Gewissensbissen. Und die Richtschnur funktioniert sichtlich gut: Schließlich sind Genießer ausgeglichener, glücklicher, optimistischer und gesünder - aus vielerlei Gründen. Sie erlauben sich alles, essen eher gut als viel und wissen, was ihnen behagt. Sie treiben mehr Sport und kümmern sich um ihre Bedürfnisse. Und vor allem: Sie haben keine Schuldgefühle beim Genießen.
Weil sich eine Verbots- und Verzichtskultur auszubreiten beginnt, ist Mut zum Genuss gefordert. Denn sich Restriktionen unterzuordnen oder stets von schlechtem Gewissen begleitet zu sein, mag für manche der rechte Weg sein. Doch sich zu fügen bedeutet immer, einen Kompromiss einzugehen. Dabei stellt sich die Frage, wofür? Die einen haben Angst vor Erkrankung, die anderen bangen vor sozialer Ausgrenzung. Natürlich macht krank sein ebenso wenig froh wie nicht dazuzugehören. Doch fremdbestimmt zu leben widerspricht gänzlich einem guten Leben. Uns von äußeren Begrenzungen zu lösen, Widerstände zu überwinden, kostet Kraft und ist mit Aufwand verbunden.
Doch das macht innere Freiheit aus, selbstbestimmt zu entscheiden, was für einen gut ist und was glücklich macht. Mutig ist, Ängste nicht abzulehnen, sondern sie einzubeziehen. Sich nicht für das Eine oder das Andere zu entscheiden, sondern den richtigen Ausgleich zu finden. Es ist Zeit für etwas mehr Gelassenheit statt vermehrter Ess-Neurosen.
Marlies Gruber ist wissenschaftliche Leiterin des "forum. ernährung heute", Lektorin für Ernährungskommunikation an österreichischen Fachhochschulen und Initiatorin des "österreichischen Genussbarometers". Soeben ist im Verlag edition a ihr neues Buch "Mut zum Genuss. Warum uns das gute Leben gesund und glücklich macht" erschienen.