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Indien de facto die sechste Atommacht. | AKW stillen Energiehunger nicht. | Indische und amerikanische Spitzenbeamte legten eine Nachtschicht ein. Mitternacht war längst verstrichen, dann hatte man das Abkommen fertig, das US-Präsident George W. Bush am nächsten Morgen als "historische Vereinbarung über die Atomkraft" feiern durfte. Auch der Indische Premier Manmohan Singh war ähnlich euphorisch: "Wir haben heute Geschichte geschrieben".
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14 der in Betrieb und in Bau befindlichen Atomreaktoren sollen als zivile Anlagen unter die Kontrolle der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO kommen, acht werden als militärische Anlagen eingestuft. Diese Trennung war von den USA als Voraussetzung dafür genannt worden, dass Indien mit westlicher Nukleartechnologie beliefert werden darf. An sich würde der Atomwaffensperrvertrag solchen Handel verbieten. Einige Kritiker im US-Kongress, der dem Deal erst zustimmen muss, haben denn auch vor der Unterminierung der internationalen Vereinbarungen gegen Atomwaffen gewarnt. Eine De-facto-Legitimierung Indiens als sechste Atommacht könnte auch andere Nationen in ihrem Streben nach Kernwaffen ermutigen, fürchten sie.
Bau von 50 neuen Atombomben pro Jahr
Tatsächlich ist der in Bau befindliche "Schnelle Brüter", in dem atomwaffenfähiges Plutonium produziert werden kann, laut ersten Meldungen von den Kontrollen ausgenommen - ein innenpolitischer Erfolg für Singh, der die Einzelheiten der Vereinbarung erst vor dem Parlament offiziell bekannt geben will. Mit dem Material aus diesem Reaktor könnten die Inder bis zu 50 Atombomben pro Jahr produzieren, schätzt der US-Sicherheitsexperte Robert Einhorn. Ohnehin scheinen aber die USA die indischen Massenvernichtungswaffen - geschätzte 100 bis 150 Atomsprengköpfe - nicht mehr so kritisch zu sehen wie die anderer Länder: Der US-Botschafter bei der UNO, John Bolton, meinte am Mittwoch, Indien habe, ebenso wie sein Nachbar Pakistan, seine Atombomben "auf legitime Weise" erworben. "Sie haben nie vorgegeben, dass sie das Streben nach Nuklearwaffen aufgegeben hätten". Im Gegensatz dazu habe der Iran den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben und wolle dennoch heimlich Atomwaffen bauen.
Indien wird von der US-Außenpolitik als Gegengewicht zum wachsenden Einfluss Chinas in Asien gesehen. In der Volksrepublik ist man dementsprechend nicht glücklich mit dem Atom-Abkommen: Indien solle dem Atomwaffensperrvertrag beitreten und sein nukleares Waffenarsenal abbauen, meinte der Außenamtssprecher Qin Gang. Allerdings hat China selbst erheblich zur nuklearen Entwicklung und Aufrüstung von Pakistan beigetragen. Prompt hat sich auch Pakistan für eine ähnliche Vereinbarung angemeldet.
Nach China hat Indien in den letzten Jahren die größten Wachstumsraten in Asien zu verzeichnen. Für das kommende Jahr werden neuerlich acht Prozent Wirtschaftswachstum angestrebt. Das Land mit 1,1 Milliarden Einwohnern hat entsprechend großen Energiehunger.
Ökonomen bezweifeln allerdings, dass das nun erzielte Nuklear-Abkommen diesen stillen kann. Atomkraftwerksbau ist ein langfristiges Projekt. Ein ungenannt bleibender Beamter des indischen Ölministeriums meinte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, dass selbst in den nächsten 20 bis 30 Jahren höchstens sieben Prozent des Energiebedarfs aus AKW gedeckt werden können. Heute sind es noch nicht einmal drei Prozent.
Deshalb dürfte sich die Donnerstag geäußerte Hoffnung von Bush, Atomenergie würde den Druck auf die Ölmärkte verringern und auch den Amerikanern zugute kommen, eher an die Heimat richten. In absehbarer Zeit ist sie nicht zu erfüllen. Stattdessen wird sich Indiens Ölimport in den nächsten 20 Jahren von derzeit 70 Prozent auf 85 Prozent steigern.
40 Prozent des indischen Energiebedarfs werden heute von Öl und Gas gedeckt. Die Hälfte kommt aus stark umweltschädigenden Kohlekraftwerken. In dem Abkommen mit den USA wird daher auch eine neue Generation von sauberen Kohlekraftwerken angestrebt.