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Estlands Ex-Premier über Digitalisierung und russische Einflussnahme.
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Ein digitaler Vorreiter: Mit dieser Bezeichnung wird die Baltenrepublik Estland immer wieder umschrieben. In internationalen Aufstellungen zu E-Government rangiert das Land regelmäßig unter den Besten. Vor zehn Jahren wurde es Opfer eines umfassenden Hackerangriffs. Im Juli übernimmt Estland von Malta den EU-Vorsitz.
"Wiener Zeitung": Dass Estland das Thema Digitalisierung zu einem Schwerpunkt seines EU-Vorsitzes machen wird, sollte nicht überraschend sein. Welche Rolle wird dabei aber Netzsicherheit oder Datenschutz spielen?
Taavi Roivas: In erster Linie geht es bei Digitalisierung darum, wie Staaten dazu bewegt werden können, ihren Bürgern Dienstleistungen zu erbringen. Es ist doch absurd, dass Menschen sich in Schlangen bei Behörden anstellen müssen. Sie müssen ja auch nicht irgendwo hingehen, um ein Hotelzimmer zu buchen. Sie können es über ihr Telefon erledigen. Elektronische Identifizierung wurde schon vor Jahren erfunden, und viele Staaten machen keinen Gebrauch davon. In etlichen Ländern gibt es noch keinen gesetzlichen Rahmen dafür - dabei ist digitale Administration eine politische Angelegenheit.
Digital kann auch Kriminalität sein. Mit Cyberangriffen hat Ihr Land Erfahrung...
Estland war 2007 das erste Land auf der Welt, das eine umfangreiche Cyberattacke gegen die gesamte Gesellschaft erlebte. Denn nicht nur die Webseiten von Regierungsstellen wurden angegriffen, auch Medien und Banken. Aber es gelang uns, das einzudämmen. Das hat uns einzigartige Erfahrung gebracht, und nun, zehn Jahre später, sind wir weit sicherer. Diese Erfahrung haben wir mit unseren Partnern geteilt, und gemeinsam mit ihnen das Zentrum für Cybersicherheit in Tallinn errichtet. Solche Attacken sind ja auch ein Angriff auf die Souveränität eines Landes, wenn etwa versucht wird, Wahlen zu beeinflussen.
Das wird Russland vorgeworfen - wie auch die Verbreitung von falschen Nachrichten und Propaganda. Wie sollen wir reagieren?
Die beste Waffe dagegen ist nicht Konter-Propaganda, sondern freie Medien. Es gibt aber kaum unabhängige russischsprachige Fernsehkanäle oder Zeitungen, die etwa mit dem britischen Sender BBC vergleichbar wären. Wer also Russisch spricht und Nachrichten in dieser Sprache sieht, hört meistens das, was der Kreml möchte. Moskau bestimmt dann das Narrativ - über Europa, die USA und andere Teile der Welt. Ideal wäre daher, wenn ein großer international agierender Fernsehsender Nachrichten auf Russisch produzieren würde.
Wie groß schätzen Sie denn die Gefahr ein, die durch den Einfluss Russlands entsteht?
Fragen Sie beispielsweise die Deutschen. Der Fall Lisa: Als die falsche Nachricht verbreitet wurde, dass ein russischstämmiges Mädchen von Ausländern vergewaltigt wurde, hatte es einen verheerenden Effekt auf die Gesellschaft. Die Emotionen kochten hoch. Ein anderes Beispiel sind falsche Berichte über bestimmte Kandidaten in Wahlkämpfen, die ein unvorbereitetes Publikum - und damit Wahlergebnisse - manipulieren können. Im Grunde geht es also um eine Schwächung der westlichen Gesellschaft, die Russland als Feind ansieht.
Sind die Westeuropäer, die den Ländern im Osten sogar Russland-Paranoia vorgeworfen hatten, nun sensibilisiert? Waren Sie zuvor zu naiv gegenüber dem Vorgehen des Kreml?
Vielen hat der Fall Lisa sicher die Augen geöffnet. Die Esten und andere Länder, die im sowjetischen Einflussbereich gestanden waren, waren weniger überrascht. Wir kannten das. Dass nun auch andere Gesellschaften sich bewusst sind, dass das passieren kann, ist gut.
Hat der Konflikt um die Ukraine auch Augen geöffnet?
Ja, er hat vor Augen geführt, dass Russland selbst vor militärischen Optionen nicht zurückschreckt. Es wurde gleichzeitig auch klar, dass Russland nicht nur eine Bedrohung in seiner unmittelbaren Nachbarschaft darstellt. Durch die Verwendung hybrider Waffen kann es sich auch in Westeuropa einmischen.
Taavi Roivas ist Vize-Parlamentspräsident der estnischen Volksvertretung. Von 2014 bis 2016 war der liberale Politiker Premier seines Landes. Er war Gast beim Prager Europa-Gipfel.