Der frühere EU-Kommissar und ehemalige WTO-Chef Pascal Lamy macht sich für das Freihandelsabkommen TTIP stark.
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Der französische Politiker Pascal Lamy war acht Jahre lang Generaldirektor der Welthandelsorganisation (WTO) und zuvor EU-Kommissar für Außenhandel. Im Gespräch beim Europäischen Forum Alpbach erklärt er, was bei dem Freihandelsabkommen TTIP schiefgelaufen ist und warum er TTIP immer noch für eine gute Idee hält.
"Wiener Zeitung": Die Debatte um Freihandelsabkommen wie TTIP und Ceta ist auch eine darüber, wer in Zukunft die Standards für den globalen Handel setzen wird. Sehen Sie einen Wandel von WTO-Multilateralismus zu bilateralen Freihandelsabkommen?
Pascal Lamy: Nein. Das ist eine sehr akademische Sicht auf Handelsregime. Wenn man sich in der Realität ansieht, dann wird klar, dass es bereits in den vergangenen 60 Jahren immer eine Koexistenz oder sogar ein Zusammenwirken zwischen globaler Öffnung des Handels und regionalen oder bilateralen Öffnungen gab. Das Problem ist, dass die akademische Denkweise davon ausgeht, dass multilateral gut ist und bilateral schlecht. Diese Theorie ist 50 Jahre alt, aber sie ist nie wahr geworden. Die Öffnung des Handels passiert multilateral, regional oder bilateral oder sogar unilateral.
Es hat also Ihrer Meinung nach keine Veränderung gegeben?
Einen großen Wechsel hat es bei der Art der Handelsbarrieren gegeben. Die Öffnung des Handels hat zum Ziel, diese abzubauen, und das größte Hindernis, Entfernung, ist durch den technologischen Fortschritt fast verschwunden. Heute entstehen Hindernisse eher durch Regulierung. Früher ging es bei solchen Barrieren um Protektion, man wollte heimische Produzenten vor der internationalen Konkurrenz schützen. Das hört auf, weil Produktionsprozesse sich heute über viele Orte erstrecken und nicht immer nur in einem Land stattfinden. Je größer der importierte Teil einer Ware wird, die wir exportieren, desto weniger Sinn hat es, unsere Importe zu torpedieren.
Allerdings haben sich neue Handelshindernisse entwickelt...
Ja. Wir nennen sie außertarifliche Hindernisse. Das sind zum Beispiel bestimmte Standards, Normen, regulative Angelegenheiten, die ich Vorsorge nennen würde. Den Handel in einer Welt des Vorsorgeprinzips zu öffnen, ist sehr anders, als das in einer Welt des Protektionismus zu tun. In einer Welt der Vorsorge ist die multilaterale Option nicht wirklich möglich. Bangladesch und Schweden etwa werden sich nicht in allzu naher Zukunft im Bereich der Vorsorge einigen. Protektion war nicht einfach, aber sie ist ideologisch flach. Dabei geht es darum, wechselseitig Zölle auf Karotten oder Zölle auf Fahrräder einzuheben. Aber beim Vorsorgeprinzip geht es um genetisch veränderte Organismen, um Tierschutz, um Datenschutz.
Wie unterscheiden sich Ceta und TTIP davon?
Der Hauptzweck im Ceta-Abkommen mit Kanada war, Protektionismus zu beseitigen. TTIP ist anders und das ist der Grund, warum es in Ländern wie Österreich und Deutschland so in Schwierigkeiten mit der öffentlichen Meinung geraten ist. Diese Länder haben aus Gründen, die mit ihrer Geschichte, mit ihrer Kultur und sogar Mythologie und Psychologie zu tun haben, ein Problem damit. Ich glaube nicht, dass Deutschland ein protektionistisches Land ist, aber es ist ein Land, das an Vorsorge glaubt.
War es unausweichlich, dass sich die Öffentlichkeit in diesen beiden Ländern so gegen TTIP wendet?
TTIP ist in Schwierigkeiten geraten, weil beide, die Kommission und die USA, sehr schlecht darin waren, zu erklären, was TTIP ist. Sie haben es so präsentiert, als wäre es ein weiteres Abkommen wie jene mit Korea, Panama, Ägypten und so weiter. Das war falsch und die Leute haben das sehr schnell gemerkt und das Vertrauen verloren. Sie hätten sagen sollen, was sie drei Jahre später gesagt haben. Wie zum Beispiel, dass es nicht möglich ist, dass dieses Abkommen zu einem Abbau des Vorsorgeprinzips führen kann. Die Kommission hat jetzt begonnen, das zu kommunizieren, und ich hoffe, es ist nicht zu spät.
Die Angst ist nicht, dass wir das Vorsorgeprinzip aufgeben müssen, sondern dass Ware, die unter niedrigeren Standards produziert wurde, in Österreich billiger angeboten wird und das indirekt zu einer Senkung unserer Standards führt.
Ich verstehe das, aber das ist nicht möglich. Die Art, wie diese Standards administriert werden, erlaubt es nicht, dass etwa ein brasilianisches Huhn auf den europäischen Markt kommt, wenn es nicht europäischen Hygienestandards entsprechend produziert wurde. Außerdem ist die Idee, dass Europa das Zentrum aller Vorsorge ist und die USA die Quelle der Risikobereitschaft, was etwa Konsumentenschutz angeht, verrückt. Der Volkswagen-Fall etwa, kam nicht in Europa auf, sondern in den USA.
Beide haben sich nur unterschiedliche Bereiche ausgesucht, in denen sie besonders vorsichtig sind.
Genau. Es gibt da sehr gute und genaue Studien dazu. In etwa einem Drittel der Fälle sind die EU-Standards höher, in einem Drittel die US-Standards und bei einem Drittel sind sie gleich hoch, werden aber so unterschiedlich administriert, dass es für die Produzenten so ist, als wären die Standards unterschiedlich. Das verursacht viele Handelshindernisse. In den USA und in der EU sind die Vorsorgestandards auf der ganzen Welt am höchsten. In diesem Bereich ist bilateral der einzige Weg, denn wenn man sich an ihren Standards orientiert, werden diese die weltweiten Standards werden, an die andere sich anpassen müssen.
Es gibt die Angst, dass, wenn die EU und die USA kein Freihandelsabkommen miteinander hinbekommen, es China sein wird, das über die Standards entscheidet.
Das ist sehr wahrscheinlich. Vielleicht nicht China alleine, aber zum Beispiel China und die USA oder China und Europa.
Wie hätte man Ihrer Meinung nach die Aufregung um den Investorenschutz beziehungsweise die Schiedsgerichte abfedern können?
Das hat eigentlich überhaupt nichts mit dem Handel zu tun, sondern es geht um die Frage, ob wir dem Justizsystem eines anderen Landes trauen. Wenn die Antwort ja ist, dann brauchen wir keine speziellen Verfahren extra für Investoren. Aber wenn die Antwort nein ist, dann schon. Die Idee, dass Unternehmen Staaten nicht klagen dürfen sollen, ist Unsinn. Unternehmen dürfen den Staat auf der ganzen Welt klagen.
Kritiker des Freihandels meinen oft, Freihandel habe unausweichlich immer einen unfairen Teil, speziell wenn er zwischen zwei ungleichen Partnern passiert...
Natürlich. Während der acht Jahre, die ich bei der WTO verbracht habe, habe ich den Begriff Freihandel so gut wie nie verwendet. Ich sagte immer "offener Handel", denn Freihandel existiert nicht. Offener Handel existiert und ist gut, vorausgesetzt eine Reihe von Bedingungen sind erfüllt. Offener Handel erzeugt Gewinner und Verlierer. Und um sicherzugehen, dass das Gesamtergebnis positiv ist, muss man sich auch mit einem Problem befassen: Es gibt keinen globalen Arbeiter und keinen globalen Wähler, während es den globalen Konsumenten schon gibt. Das heißt, wenn das Verhältnis zwischen Gewinnern und Verlierern nicht ausbalanciert ist, dann wird es Reaktionen geben, die dem Handel feindselig eingestellt sein werden.