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Was für Wien Grinzing, ist für Bratislava der Stadtteil Raca. Im Winter ist der Charme dieses Bezirks im Nordosten der slowakischen Hauptstadt aufgrund der brachliegenden Weinfelder zwar nur zu erahnen, im Sommer blüht Raca dann aber so richtig auf. Enge hübsche Straßen mit gepflegten, teils älteren Häusern und heurigenähnlichen Gaststätten locken viele hierher. Ein wesentlicher Unterschied zu Grinzing fällt aber im Sommer wie Winter auf: Es gibt hier keine Touristen.
"Die Stadt macht nichts dafür, um Touristen nach Bratislava zu locken", erzählt Anna, die in der Altstadt nahe dem Zentrum wohnt, bei einem Besuch in Raca. "Da gibt es das Dreieck Wien-Budapest-Prag und Bratislava bleibt außen vor. Manche Reisende steigen hier einfach nur um, manche bleiben ein paar Stunden, aber nur wenige übernachten auch hier." Sie muss es wissen, können doch Touristen in einem Gästezimmer ihrer Wohnung preiswert nächtigen. Doch der Andrang hält sich in Grenzen - im Winter ohnedies. Aber auch im Sommer, wenn in der Innenstadt Bratislavas mit vielen Straßencafes, Musik und gutem Essensgeruch geradezu südländische Atmosphäre herrscht, gibt es hier kein Sprachenwirrwarr.
Anna, ehemalige Kostümbildnerin an einem großen Theater, bedauert dies sehr. Denn der "Westen" steht der überzeugten "Anti-Kommunistin" wesentlich näher als der "Osten", zu dem sie auch die Slowakei zählt. Auch wenn Anna den alten Zeiten also beileibe nicht nachtrauert - so wie ohnedies nur ganz wenige hier - eines war dann doch gut unter den Kommunisten: die niedrigen Lebenshaltungskosten. So ist die Miete heuer um fast fünfzig Prozent gestiegen, Strom, Gas und Fernsehen ähnlich stark. Der Dank von Ministerpräsident Mikulas Dzurinda für seine überraschende Wiederwahl im Herbst des Vorjahres, wie Annas Freundin Bozuna zynisch anmerkt.
Bratislava an den letzten Februartagen. Es herrscht Aufbruchstimmung. Die kalten Tage sind gezählt, der Winterschlaf in der slowakischen Hauptstadt ist beendet. Groß ist die Vorfreude der Menschen auf den Frühling. Es sind aber eher die Aussichten auf schöne warme Tage, die die Bevölkerung beschäftigen als die wichtigste politische Entscheidung der letzten Jahre - die im Mai anstehende Abstimmung über den EU-Beitritt. Es herrscht ganz offensichtlich ein breiter Konsens in der Bevölkerung: Am Referendum teilnehmen und Ja sagen. Alles andere scheint in den Augen von fast 80 Prozent der Slowaken undenkbar.
Dass angesichts des EU-Beitritts im kommenden Jahr dennoch nicht gerade eine Welle der Begeisterung durch Bratislava wogt, scheint nur auf den ersten Blick verwunderlich. Zu groß sind die Belastungen, die die Bevölkerung auf Grund von Sparmaßnahmen der Regierung in Blickrichtung EU in den letzten Jahren ertragen musste und muss. Kostet doch beispielsweise ein Packerl der beliebten Zigarettenmarke "Petra" heute beinahe doppelt so viel wie noch vor zwei Jahren. Doch mit dem Rauchen aufzuhören, reicht bei weitem nicht.
Massive Preiserhöhungen treffen alle Bereiche des täglichen Lebens. "Es wird immer schlimmer. Vieles ist hier mittlerweile genauso teuer wie in Wien", zieht Anna Vergleiche mit der Nachbarstadt. Tatsächlich zeigt ein Blick in den Supermarkt "Tesco", dass das Niveau im Vergleich zu früheren Zeiten sehr hoch geworden ist - angebotsmäßig, aber vor allem preislich.
Für Anna und Bozuna ist es dennoch selbstverständlich, im Mai für einen EU-Beitritt des Landes zu stimmen. Die Aussichten in nicht allzu ferner Zukunft auf nahezu "westliches" Niveau zu kommen, lässt die leeren Geldbörsen einigermaßen vergessen.
Leichter wird es die nächsten Jahre aber ganz sicher nicht, wie der 20-jährige Kajo feststellt. "Ich verdiene 9.000 Kronen (215 Euro) im Monat, wie soll das gehen, wenn unser Leben ähnlich teuer ist wie bei euch. Vielleicht kommt der Beitritt zu früh, aber vielleicht ist es auch besser so", beschreibt er die generelle Unsicherheit in der Bevölkerung. "Ob ich überlege gegen den Beitritt zu stimmen? Nein, ganz sicher nicht. Ich komme aus Petrzalka im Süden der Stadt, wo wir im allerletzten Haus vor der Grenze wohnen. Früher hatten wir nur drei, vier Meter vor unserer Nase über Hunderte Meter lang einen Stacheldraht. Ich kann mich gut an die Schüsse der Soldaten erinnern, wenn da jemand zu nahe kam. Egal ob Erwachsener oder Kind. Nach diesen Erfahrungen will ich vor allem eines: Freiheit." Und diese verkörpere die EU.
Der Metal-Fan nutzt die neue Freiheit auch gerne aus, um zu Konzerten ins nahe Wien zu reisen. Umgekehrt sind an diesem Abend "Seeds Of Sorrow", eine der besten Metal-Bands Österreichs, zu Gast im gut besuchten Musikclub "Duna". Während sich die Völkerverständigung sonst noch nicht so recht entwickelt hat, klappt jene per Musik wieder einmal einwandfrei - wie auch die zahlreichen Auftritte der aufstrebenden slowakischen DJs in Wien beweisen.
Gerade bei den Jungen herrscht eine erfreuliche Selbstverständlichkeit im Aufeinanderzugehen. Diese Generation entwickelt ein neues Selbstbewusstsein. Anders als ihre Vorfahren, die sich von den Tschechen bevormundet und von den Befehlshabern aus Moskau unterdrückt fühlten. Freiheit findet man nun auch bei sich selbst im Land, und die EU bietet hoffnungsvolle Perspektiven.
Etwa für Robert, Ökonomiestudent aus Svidnik im Nordosten der Slowakei. Hatte er bei den Parlamentswahlen 2002 - vor allem aus Protest gegen die Politik Dzurindas - für die EU-kritischen Kommunisten gestimmt, die in seiner Heimatregion auch die Mehrheit erlangten, steht für ihn die Notwendigkeit eines Beitritts doch völlig außer Frage. Er persönlich hat die "europäische Integration" dank mehrerer in Deutschland und Österreich verbrachter Jahre ohnedies längst geschafft. Dem EU-Beitritt sieht er nüchtern, aber doch mit einigen Erwartungen entgegen.
"Bei uns in der Umgebung ist in manchen Gemeinden jeder Zweite arbeitslos, vielleicht können Fördergelder aus Brüssel zu einem gewissen Aufschwung beitragen." Doch auch an weiterführende Dinge denkt der umweltbewusste Student, der sich beruflich später in Richtung Umweltmanagement spezialisieren möchte, und oft am Bauernhof seiner Großeltern mitarbeitet. "Wenn ich mir unsere Umweltauflagen ansehe und jene in der EU, dann stehen wir nicht gut da. Da werden einige Änderungen kommen. Als Vorbild sehe ich da ganz besonders Österreich. Von euren Bestimmungen können wir hier nur träumen."
Er selbst will nach Beendigung des Studiums versuchen, eine Arbeit in seiner Heimat zu finden. Obwohl er mit seinen Fremdsprachenkenntnissen - perfektem Deutsch und gutem Englisch - sicherlich auch in anderen Staaten gute Jobaussichten hätte.
Ähnlich wie er denken viele junge Slowaken, die versuchen wollen, in ihrem Land etwas aufzubauen. "Wozu quasi ins Ausland flüchten, wenn wir auch hier etwas leisten und gutes Geld verdienen können?" fragt sich Robert. Dabei ist ihm jede Form von übertriebenem Patriotismus fremd. Vielmehr könnten es die nicht immer ganz so positiven Erfahrungen sein, die er wie viele Landsleute bei ihren Aufenthalten in Ländern wie Österreich machen mussten. Der Strom junger Slowaken nach Wien, der Mitte der 90-erJahre begann, ist jedenfalls abgerissen.
Auch junge Mädchen überlegen heute zweimal, ob sich der Gang als Au-Pair über die Grenze lohnt. Viele von ihnen, aus dem Norden und Osten der Slowakei, die bis vor kurzem wohl noch nach Österreich gekommen wären, versuchen heute ihr Glück in Bratislava, wo die Aussichten auf eine Arbeit auch nicht schlecht sind. Längst zurückgegangen in ihr winziges Heimatdorf an der Grenze zu Tschechien ist Daniela. Sie hatte fast zwei Jahre bei einer wohlhabenden Familie in Wien-Hietzing gewohnt, und sich dort um die beiden kleinen Kinder gekümmert. "Ich will mich nicht beklagen, sie waren durchaus nett, aber 3.500 Schilling im Monat waren doch ein bisschen wenig." Sie kommt noch bisweilen auf Besuch, und wolle das auch weiterhin tun. "Ich bin froh, dass wir bald bei der EU sein werden, dann werden die Kontakte zu unseren Nachbarn sicher noch viel besser", glaubt Daniela.
Beste Kontakte hat heute bereits Juraj aus Bratislava-Dubravka, der in den Wintermonaten als Skilehrer arbeitet. "Heuer hab ich endlich auch die österreichische Ausbildung gemacht, jetzt kann ich auch in den Alpen unterrichten. In der Hohen Tatra ist es auch sehr schön und die Bezahlung für die Verhältnisse in meinem Land sind durchaus gut. Aber die Skigebiete sind nicht so groß, und ich kenne schon alle auswendig." Im Gegensatz zu Robert zieht es ihn aber doch in die große weite Welt hinaus. "Ich würde gerne in Australien studieren, aber als Slowake ein Visum zu bekommen, ist schwierig." Auch in dieser Richtung könnte ein EU-Beitritt für kommende Generationen vieles verbessern, hofft Juraj.
Zurück mit Anna ins Zentrum Bratislavas. Auch am Sonntag Nachmittag dringen laute Baugeräusche ins Ohr. Dort, wo vor drei Monaten noch ein einzelnes verfallenes Haus gestanden war, wird im Rekordtempo eine hübsche kleine Siedlung errichtet. Für die Anrainer ist es ein wenig lästig, wenn auch am Wochenende schon ab acht Uhr früh gestemmt, gebohrt, und Rohr verlegt wird. "Da sieht man, wie fleißig die Slowaken sind", meint Anna nicht ganz so ernst. In Wahrheit scheint es fast so, als würde in der Stadt ein Kampf gegen die Zeit geführt. Als ginge es darum, Bratislava bis Mitte kommenden Jahres EU-reif zu machen. Die Bewohner der Stadt sind jedenfalls bereit.
Die Serie wird kommenden Freitag mit "Malta" fortgesetzt.