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Freiheit für die Freiheit!

Von Alexander von der Decken

Gastkommentare
Alexander von der Decken ist freier Journalist, Publizist und Schriftsteller. Er hat Philosophie und Romanistik studiert und in Barcelona und Paris gelebt.

Europa muss seine Tore öffnen, eine Alternative gibt es nicht mehr. Die Menschen, die kommen, werden bleiben. Wohin sollen sie auch zurück?


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Flüchtlingsströme ergießen sich über Europa. Sie lassen sich nicht mehr steuern, seien es jene vom Balkan, jene aus Afrika oder jene aus einem der zahlreichen anderen Kriegsgebiete. Allein für heuer rechnen Österreich mit 80.000 und Deutschland mit 800.000 Neuankömmlingen. Die Bilder von überfüllten Seelenverkäufern, die im Mittelmeer treiben, sind Zeugnis eines skrupellosen Menschenhandels, der Honig aus der Verzweiflung der Flüchtenden saugt.

Europa muss seine Tore öffnen, eine Alternative gibt es nicht mehr. Die Menschen, die kommen, werden bleiben. Wohin sollen sie auch zurück? Ihre Lebensbereiche sind zerstört. Wiederaufbau und Normalität sind in ihrer Heimat in utopisch weite Ferne gerückt.

Das wirkt auf viele Menschen bedrohend. Die Auswüchse im deutschen Heidenau zeigen dies auf beschämende Weise. Bedroht ist letztendlich die Freiheit. Sie ist ein universales Recht, das jedem Menschen zusteht. Ein öffentlicher Diskurs über das Privileg, in Frieden und Freiheit zu leben, ist in Europa überfällig. Freiheit ist in den Wohlstandsgesellschaften mittlerweile zur trügerischen Selbstverständlichkeit geworden. Man hat sich an sie gewöhnt. Die Flüchtlingsströme, die über die grünen Grenzen kriechen und an die Küsten branden, werden zur Nagelprobe dafür, was Europa unter Freiheit versteht. Europa hat immer die Freiheit gedacht - es hat verlernt, sie zu leben.

Dem Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) zufolge ist die Freiheit vereinfacht ausgedrückt das, was ein Mensch aus seinen Gewissensregungen folgert. Wenn der Empfindung der Wille zur Handlung folgt, hat der Mensch einen Akt der Freiheit vollzogen. Entscheidend ist die Tat. Arthur Schopenhauer (1788-1860), der Kants Freiheitssicht folgte, hat den Gedanken einer Mitleidsethik daraus abgeleitet. Im Zustand der Anteilnahme am Leid eines anderen verlässt der Mensch die Bühne, auf der er das Stück seines Lebens spielt, und wird zum Zuschauer.

In dieser Rolle agiert er frei von den Bedürfnissen und dem Egoismus seiner Existenz. Er wird sich bewusst, dass das Leid auch ihn jederzeit erreichen kann. Mit der Anteilnahme tut er den Schritt vom Ich zum Wir. Er lebt mit den Menschen und mit dem sie umgebenden Leid. Dieser Freiheitsgedanke lebt nicht mehr in den Köpfen des 21. Jahrhunderts. Er sollte neu gedacht werden. Es ist leicht, sich hinter Scheinargumenten zu verschanzen.

Der Sozialphilosoph Max Horkheimer (1895-1973) hat vor der Heuchelei gewarnt, die einem Abwiegelungsdenken innewohnen könne. Er riet zum Misstrauen gegenüber dem, der behauptet, dass Hilfe nur im Großen und Ganzen oder aber gar nicht gelingen könne. Es sei die Lebenslüge derer, die in Wirklichkeit gar nicht helfen wollten und sich vor der Verpflichtung im Einzelnen auf die große Theorie hinausreden würden.

Das Freiheitsideal Europas darf kein Auslaufmodell werden. Europa ist mit der Rettung des Euro beschäftigt und damit, sich ökonomisch abzuschotten - zu einem Raum, in dem die Menschen nur noch als Konsumenten Bedeutung haben.

Die Idee der Freiheit ist eine der Säulen, auf denen der alte Kontinent ruht. Bricht sie weg, verliert Europa seine Identität.