Für viele junge Frauen bedeutet der strenge Moralkodex ein Leben in Unfreiheit.
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Aisha ist 42. Sie hat studiert und arbeitet in einer Sprachschule. Sie unterrichtet Arabisch, engagiert sich in Alphabetisierungskursen für den sozialen Aufstieg von Frauen. Sie kleidet sich westlich, Jeans und T-Shirt, dazu bunter Modeschmuck, Stöckelschuhe. Kopftuch trägt sie keines, hat sie nie getan. Sie lacht viel, hat humoristisches Talent und fegt wie ein Wirbelwind zwischen ihren Studenten hin und her. Stets eine herzliche Umarmung, ein freundliches Wort auf den Lippen. In ihrer Arbeit hat Aisha viel mit Europäern zu tun, spricht neben zwei lokalen Dialekten ihrer nordafrikanischen Heimat und Arabisch auch Französisch und Englisch.
Eine junge Muslimin, die sich emanzipiert hat. Die für sich gleiche Rechte einfordert wie für ihre Brüder. In ihrer Religion und Kultur verwurzelt, dabei jedoch weltoffen, politisch interessiert, sozial engagiert. Theoretisch, ja. Auf den ersten Blick.
Aisha ist nicht verheiratet. Ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt sinken mit jedem Jahr. Sie lebt daher nach wie vor bei den Eltern. Ohne Aussicht, dass sich das ändern könnte. Wie würde das aussehen, eine junge Frau, alleine in einer Wohnung. Was sollen da die Leute denken. Undenkbar.
Eine Heirat hat sich für Aisha nicht ergeben. Interessenten hat es gegeben, einmal war mehr, einmal weniger Liebe im Spiel. Immer aber Perspektive. Doch dem strengen Vater war keiner gut genug. Einen Ausländer oder einen Landsmann einer anderen Ethnie wollte er nicht akzeptieren. Wie hätte das ausgesehen. Unmöglich. Eine Schande für die Familie.
Es zählt nicht, was man tut, sondern was andere denken
Ein Leben in Schande. Das gilt es in der islamischen Welt auch heute noch um jeden Preis zu vermeiden. Nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für die Familie. Dabei geht es nicht darum, was man tut. Was zählt, ist, was die Leute denken, dass man tut. Das macht die Sache wesentlich komplexer. In den großen Metropolen von Istanbul über Kairo bis Casablanca gibt es eine wachsende Ober- und Mittelschicht, die dieses Konzept als veraltet betrachten und ignoriert. Doch der Großteil der Bevölkerung ist nach wie vor tief diesem Moral- und Verhaltenskodex verhaftet.
Konsequenzen hat das vor allem für junge Frauen. Denn ihnen bieten sich unendlich mehr Möglichkeiten, diese Schande auf sich und die Familie zu ziehen. Vom Rauchen in der Öffentlichkeit über einen zu langen Blick in ein schönes Paar Männeraugen über fehlenden Respekt den Eltern gegenüber bis zum maximalen Sündenfall: die nicht durch Ehe legitimierte Sexualität. Dabei gilt es nicht nur all dies zu unterlassen, sondern darum, nicht einmal den Anschein davon zu wecken. Uneheliche Kinder gibt es aufgrund dieses Kodex in vielen muslimischen Ländern nicht. Zumindest offiziell. Ein Kind, das mindestens sechs Monate nach der Hochzeit geboren wird, gilt gemeinhin als ehelich. Da bleibt ein gewisser Spielraum. Egal, was das für die jungen Eltern bedeutet. Hauptsache der Schein bleibt gewahrt.
Und so lässt sich die gebildete, lebenslustige Aisha mit 42 von der Mutter sagen, dass sie ihr Zimmer aufräumen soll, streitet mit der Schwester über ungefragt ausgeborgte Kleider. Mit ihrem Vater ist geregelt, wann sie zu Hause zu sein hat. Mit der Mutter, welche Aufgaben sie im Haushalt zu erledigen hat. Dass sie arbeiten geht, wird geduldet. Danach noch mit Freunden ausgehen? Nicht ohne moralisch zuverlässige Begleitung. Und Aisha lächelt weiter. Normalität ist schließlich das, was man kennt.
Ehe als Weg in die Freiheit oder in ein neues Gefängnis
Ehe ist jedoch nicht immer die Lösung des Problems, erzählt Aishas Freundin Halima. Sie ist Mitte dreißig und geschieden, lebt wieder mit der Familie. Die hat sie zähneknirschend wieder aufgenommen. Mit ihrem Mann war Halima mehr als glücklich. Das Problem war die Schwiegermutter. Finanziell war ein eigener Haushalt für das Paar nicht realisierbar. Ein Leben mit seinen Eltern logische Konsequenz. Wie für viele junge Paare und Familien. Oft gelebter Normallfall und Hölle für viele Schwiegertöchter, die ein Dasein als bessere Hausangestellte führen müssen. Die Schuld am Scheitern der Ehe trägt dennoch allein die geschiedene Frau. Ihr und ihrer Familie gebührt auch die Schande.
Der Moralkodex, der hinter diesen Geschichten steckt, klingt wie die Realität lang vergangener Jahrhunderte. Und findet sich doch heute, nur wenige Flugstunden von Europa entfernt, von Marokko bis weit über das Nildelta hinaus. Es ist eine Realität von heutigen Menschen, aufgeschlossenen Jugendlichen, die Smartphones besitzen, sich auf Facebook vernetzen und Neuigkeiten via Twitter verbreiten. Die Welt junger Frauen, die schwedische und spanische Discount-Mode tragen, für Popstars schwärmen und wissen, wie ein BigMac schmeckt. Es ist eine Realität, die zeigt, wie steinig und lang der Weg in die Freiheit ist, sei es als Individuum, als Frau oder als ganze Gesellschaft. Dass Bildung ein wichtiger Schritt in die Selbstbestimmung ist, aber nicht der einzige.
In vielen muslimisch geprägten Ländern prallen in der jungen Generationen zwei höchst konträre Welten aufeinander. Sie fühlen sich einem strengen Moralkodex verpflichtet, in dem hinter jeder Ecke die Schande lauert. Und bewegen sich leichtfüßig in einem digitalen, weltoffenen Netz- und Konsumkosmos. Eine schizophrene Parallelexistenz zweier Wertesysteme, die noch lange miteinander ringen werden müssen, um einen Kompromiss zu ergeben, der beiden Seiten gerecht wird.
Den Kopf im Netzzeitalter, die Füße in der Tradition
Es ist nicht lange her, dass auch in Europa ähnliche Moralvorstellungen das Schicksal einzelner und ganzer Gesellschaften prägten. Mit Religion an sich oder dem Islam im Speziellen hat das Konzept der Schande hier wie dort nicht viel zu tun. Außer als Mittel, das System zu legitimieren. Wie es sich ja auch in heimischen Alpentälern bis in die 70er Jahre halten konnte. Der Großteil ist gesellschaftliche Tradition. Und deren Wurzeln sind tief.
Die westliche Welt hat die Entwicklung zur heutigen Realität in einem langsameren Tempo vollzogen. Und sie nicht plötzlich mit dem Netz ins Haus geschwemmt zu bekommen. Der Prozess der Veränderung ist auch in der islamisch-arabischen Welt unaufhaltsam. Es besteht also Hoffnung. Vielleicht nicht für Aisha und Halima. Aber für ihre Töchter und Nichten. Denn Individualität, Freiheit und Selbstverantwortung - Werte, die letztlich auch Demokratie erst ermöglichen - lassen sich nicht über Nacht erlernen. Und ein tief in der Gesellschaft verwurzeltes Wertesystem nicht mit einer Revolution beiseite fegen.
Manchmal, erzählt Aisha, träumt sie noch von der großen Liebe. Von einem unabhängigen Leben. Manchmal träumt sie etwas nüchterner von der Scheinehe. Davon zu heiraten, um verheiratet zu sein. Um weg zu können. Gleich nach der Hochzeit würde sie sich ins Flugzeug setzen, auswandern, sich heimlich wieder scheiden lassen. Kanada schwebt ihr vor. Sie selbst kommt gut ohne Ehemann klar. Vor allem ohne das Leben bei einer eventuellen Schwiegerfamilie. Einfach davonzulaufen ist keine Option. Es würde die völlige Isolation bedeuten. Das kann sie ihren Eltern nicht antun. Was sie sich damit antut, ist da sekundär.
Was Aisha vermisst, ist Freiheit. Ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben. Diese Freiheit scheint ihr durch eine Scheinehe am greifbarsten. Sie würde frei sein und den Schein wahren. Und ihrer Familie ersparen, ihretwegen in Schande leben zu müssen. Der Form nach zumindest. Was Aisha in Wirklichkeit tut, wäre dann nicht so wichtig.