Liberalismus: Vier neue Bücher analysieren Gegenwart und Vergangenheit, Probleme und Zukunftsfähigkeit jener Idee, die bis heute zum Kernbestand des westlichen Denkens gehört.
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Als sich die Zuschauer am 10. Februar 1605 im Palace of Whitehall in London in der Uraufführung von Shakespeares "Kaufmann von Venedig" drängten, wäre kein Einziger von ihnen auf die Idee gekommen, dass eine Person des Stückes ein Advokat von Freiheit, Persönlichkeitsrechten und Freihandel sein könnte. Als im vierten Akt Bassanio der jungen Portia einen Ring verspricht, "the dea-rest ring in Venice", den teuersten Ring Venedigs, antwortet sie darauf: "I see, sir, you are liberal in offers". Was für ein Liberaler war Bassanio nur? Als Schenkender lange der einzig wahre, denn das Wort "liberal" bedeutete hier nur "freigiebig".
Erst im Spanien des frühen 19. Jahrhunderts wurde aus dem Wort "liberal" ein politischer Begriff - ein vielgestaltiger Begriff. Im 19. Jahrhundert konnten Liberale vielerlei sein: Gegner von Krieg und Befürworter des Imperialismus. Liberale konnten einem starken Staat misstrauen, aber auch für den Ausbau von Sozialsystemen plädieren. Sie konnten konservativ sein - und progressiv. Sie konnten Bewahrer sein. Oder Umstürzler mit anarchistischem Flair.
Ist jeder liberal?
Das Wort Liberalismus ist, wie der englische Journalist Edmund Fawcett richtig schreibt, "notoriously slippery", bekanntermaßen rutschig. Es fehlt beim Liberalismus die finale Sicherheit, irgendwie. Dabei ist er eine Erfolgsgeschichte: Der "Westen" gründet zutiefst im Liberalismus, seinen Freiheitsideen, seinen Rechtsprinzipien - Unversehrtheit der Person, Schutz des Eigentums, Meinungsfreiheit, Toleranz -, seiner Beförderung von Autonomie, Individualität und Fortschritt. Andererseits ist sich der Liberalismus seiner selbst nicht sicher. Er ist, wie Fawcett das pointiert nennt, neurotisch, neigt zu destruktiver Innenschau und zu Skrupeln, die zu Lähmung führen können.
Das Kuriose in Europa: Jeder erklärt sich zum liberalen Weltbürger. Nur: In den letzten 25 Jahren sind mit einer Handvoll Ausnahmen, etwa den Neos hierzulande, in jedem europäischen Staat liberale Parteien im Sinkflug begriffen. In Deutschland ist 2013 bei der Wahl zum Deutschen Bundestag die FDP - als Regierungspartei! - im hohen Bogen aus dem Parlament geflogen, sie stürzte von 14,6 Prozent anno 2009 auf 4,8 Prozent ab.
Vor wenigen Wochen gab der aktuelle Bundesvorsitzende der FDP, Christian Lindner, einem Schweizer Magazin ein Interview. Und zeichnete darin nochmals die klassischen Umrisse des Liberalismus nach: "Ich verstehe unter Sozialdemokratisierung die Überdehnung des Staats und die Unterforderung, Bevormundung und Abkassierung bis hin zum Bespitzeln des einzelnen. Millionen Menschen wollen aber Autoren ihrer eigenen Biographie sein, setzen auf wirtschaftliche Vernunft, leben mit Eigeninitiative und haben Lust auf neue Technologien."
All dies sind Kerneigenschaften des Liberalismus. Das wird aus vier neuen Büchern deutlich, geschrieben vom amerikanischen Ideenhistoriker Larry Siedentop, der viele Jahre lang im englischen Oxford gelehrt hat, vom britischen Politikwissenschafter Michael Freeden, von Edmund Fawcett, einem altgedienten Auslandskorrespondenten des wirtschafts- und freihandelsfreundlichen Magazins "The Economist", und vom deutschen Kulturjournalisten Alexander Kissler, Redakteur des Berliner Polit-Monatsmagazins "Cicero".
Die ersten drei holen weit aus. Ihr historischer Bogen reicht dabei von Paulus und Augustinus bis zu John Stuart Mill, Benedetto Croce und Isaiah Berlin. Vor allem Siedentop handelt gelehrt und intellektuell anspruchsvoll inklusive mancher mäandernder Wiederholung antike und frühneuzeitliche Vorläufer des Prozesses liberaler Individualisierung ab. Alexander Kissler hingegen zeigt in seiner Streitschrift akute Dilemmata des zeitgenössischen Liberalismus auf. Ist das Burka-Tragen in der Öffentlichkeit ein unveräußerliches Persönlichkeitsrecht des Individuums? Oder ist solche Gewandung ein Affront gegen die offene Gesellschaft? Wie sehr darf ein Rechtsstaat gegen Bürgerrechte verstoßen, um die eigenen Bürger zu schützen vor denen, die jedes Menschenrecht mit Füßen treten? Wann kommen sich Religionskritik und Meinungsfreiheit ins Gehege, auf dass eines von beiden abgeschafft wird? Wann wird Toleranz windelweich, wertfrei, also wertelos?
Dass Kisslers Argumentation manchmal wie ein Papierflieger hin- und hergetrieben wird, an anderen Stellen wie ein Weberschiffchen erst in die eine radikale, dann in eine andere, wertkonservative Richtung zischt, auch das ist liberal, weil viel umfassend. Und immer wieder sich neu anpassend.
Illiberale Demokratie
Der englische Politikwissenschafter Michael Freeden, der heute als Honorarprofessor politische Theorie an der University of Nottingham lehrt, macht in seiner hochkondensierten Westentaschenformat-Einführung in den Liberalismus auf etwas aufmerksam, was in der medialen Berichterstattung und im Politiker-Sprech schon länger untergegangen ist: Die Demokratisierung, die ab 1990 in Mittel- und Osteuropa Einzug hielt in vormals staatssozialistischen Ländern wie Ungarn, Bulgarien oder Rumänien, war nicht deckungsgleich mit einer liberalen Zivilgesellschaft. Demokratisch bedeutet nicht automatisch liberal. Wie man für Orbáns Ungarn oder Erdogans Türkei konstatieren kann, ist ein anti-liberales Regime ökonomisch anti-progressiv. In seinen Repressionen unterdrückt es eben die Freiheiten des Denkens, die zu Innovationen führen, zu Neuem, auch auf dem Feld der Gesellschaftspolitik. Das Ersticken des Liberalismus und seiner Prinzipien führt zu Brain Drain, Stillstand, ökonomischem Abstieg - beispielhaft zu sehen in der Militär-Theokratie Iran.
Es gibt ja, Freeden zufolge, auch semantische Tricksereien, die mit dem Liberalismus getrieben werden. Die Liberal-Demokratische Partei in Japan ist dezidiert rechtskonservativ. In den Niederlanden sind die "Democraten 66" innerhalb des kleinteiligen politischen Spektrums dieses Landes klassische Linksliberale, die "Volkspartij voor Vrijheid en Democratie", in deren Namen bereits zwei liberale Hauptprinzi-pien aufscheinen, ist dagegen wirtschaftsliberal und sozialpolitisch ans konservative Lager grenzend. Hierzulande würde niemand, der bei Sinnen ist, die Freiheitlichen auch nur ansatzweise dem Liberalismus zuordnen.
Der Neo-Liberalismus
Der Neo-Liberalismus, seit etwa 30 Jahren wirtschaftstheoretisch und finanzpolitisch en vogue, hat rein gar nichts mit liberalen Basisansichten zu tun - dabei bezeichnete sich der Publizist Irving Kristol, einer der Vordenker dieses schrankenlosen Turbokapitalismus, selber einmal als einen von der Wirklichkeit geläuterten Liberalen. Das ergänzende Gegenstück dazu sind die Libertären, Marktradikale, die gegen Steuern ebenso wettern wie gegen einen aktiven Sozialstaat, dafür Isolationismus und entgrenzten Wettbewerb predigen. Mit Rand Paul ist heuer erneut ein Libertärer im amerikanischen Rennen um die Präsidentschaftskandidatur der Republikanischen Partei.
Ist das Grundproblem des Liberalismus vielleicht, dass er an einen komplexen, einen handlungsmächtigen, einen handlungswilligen Einzelmenschen glaubt, der sich in Zeiten von hoch differenzierter Spezialisierung, digitaler Miniaturisierung und sozialer Atomisierung behauptet? So viel einfacher ist es umgekehrt, sich in unübersichtlichen Zeiten zu simplen Antworten zu flüchten. Sich ein Weltbild aus einspruchsresistenten Vorurteilen und anstrengungslosem Schubladendenken zusammenzuzimmern, in dem jede Irritation sofort erstickt wird.
Anti-Liberalismus ist ein anti-intellektuelles Puzzle mit drei Teilen. Liberalismus macht Mühe. Liberal sein heißt, jede Situation immer wieder von neuem abzuklopfen, hin- und herzuwenden, zu durchleuchten. Liberal sein heißt: sich jeglicher ideologischen Mauern zu entledigen, die das Leben scheinbar so einfach machen. Eine fugendichte Ideologie urteilt nicht nach gut und besser, nach klug und noch klüger. Sie teilt ein in Schwarz hier und Weiß dort, in Freund und Feind, in Wir und alle Anderen. Alles wird ins eigene Prokrustesbett gedrückt - und was übersteht, lästig ist oder stört, wird abgeschnitten. Somit sieht am Ende alles gleich aus, gleich passend.
Ideologie oder Idee?
Liberalismus ist keine Ideologie. Deshalb leuchtet es ein, dass die Autoren Liberalismus eine "Idee" nennen. Eine Idee mit einer imposanten Vorlaufsgeschichte - nachzulesen bei Siedentop, der sich als besonnener, nicht allzu feuriger Stilist über antike und neuzeitliche Geschichte beugt, bei Freeden, der klug zuspitzt, und beim Journalisten Fawcett, der intelligent und politisch zeitnah argumentiert.
Eine Idee aber, die vielen heute als Kadaver anmutet, von dem sich andere, von christdemokratisch bis sozialistisch, von Konservativen bis zu Internet-Aktivisten, bedienen, geierartig das herauspicken, was ihnen passt. Dass an diesem Zustand auch Liberale selbst Schuld tragen, indem sie ihr klassisches Gelände aufgeben, ist andererseits ebenso wahr.
Schon vor Jahren wurde die deutsche FDP als "Sandalenpartei" verspottet - nach allen Seiten offen. Über mehrere Jahrzehnte hinweg war sie nur Koalitionszünglein an der Machtwaage. Dass liberale Programmatik dabei zugunsten eines kurzatmigen Machiavellismus aufgelassen wurde und am Ende alles auf den Ruf nach Steuersenkungen herunterschrumpfte, verstand sich da von selbst. Damit einher ging die nachlassende Attraktivität der liberalen Idee. Weil eh jeder liberal ist, irgendwie.
Eine aufregende Frage stellt Edmund Fawcett am Ende seines lesenswerten Buches: Hat der Liberalismus, das ureigentliche Fundament der westlichen Zivilgesellschaften, nicht demnächst eine glühende Zukunft anderswo, in bisher illiberalen Staaten, im Iran, in China, in Indien?
Alexander Kluy, Journalist, Kritiker, Autor. Lebt in München. Zahlreiche Veröffentlichungen zu literatur-, kunst- und kulturhistorischen Themen.
Larry Siedentop:
Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015. 492 Seiten, 30,80 Euro.
Alexander Kissler:
Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015. 184 Seiten, 18,50 Euro.
Michael Freeden:
Liberalism. A Very Short Introduction. Oxford University Press, Oxford 2015. 144 Seiten, 12,40 Euro.
Edmund Fawcett:
Liberalism. The Life of an Idea. Princeton University Press, Princeton, NJ, 2014. 472 Seiten, 38,50 Euro.