Beseitigt Corona Rechtsstaat und Demokratie?
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Es kann keinen Zweifel geben: Die Corona-Krise hat tiefe Einschnitte in unser Privatleben, aber auch ins Wirtschaftsleben gebracht. Staatliche Maßnahmen beschränken unsere freie Bewegung. Kinder durften wochenlang ihre Eltern nicht besuchen. Großeltern konnten mit ihren Enkelkindern nicht Ostern feiern. Sterbende mussten ihre letzten Stunden einsam verbringen. Geselliges Beisammensein wurde verboten. All diese Maßnahmen wurden von Regierungsmitgliedern aufgrund gesetzlicher Ermächtigungen verfügt. Viele Bürger sind sehr besorgt: Erleben wir gerade den Umbau unserer demokratischen Republik in einen autoritären Staat, in eine Regierungsdiktatur? Und das zum 100. Geburtstag unserer Verfassung?
Wir dürfen uns auch in einer dramatischen Situation nicht allein unseren Gefühlen und Ängsten hingeben. Die von der Regierung verordneten Maßnahmen gründen auf einer gesetzlichen Ermächtigung, und die Gesetze selbst können sich auf Gesetzesvorbehalte in unserer Grundrechtsordnung stützen. Fast alle Grundrechte sehen nämlich vor, dass sie durch Gesetze im öffentlichen Interesse beschränkt werden dürfen. Daher sind auch Beschränkungen der Erwerbsfreiheit und Eigentumseingriffe seit jeher Bestandteil unserer Normalität.
Auch die Europäische Menschenrechtskonvention sieht vor, dass der Gesetzgeber in einzelne Grundrechte eingreifen kann, wenn und insoweit das in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, um bestimmte Rechtsgüter zu schützen. Der Schutz der Gesundheit ist von der Menschenrechtskonvention bei allen Grundrechtseingriffen als wichtiges Schutzgut verankert. Artikel 15 geht noch einen Schritt weiter: Die Bestimmung sieht vor, dass im Fall eines öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht, die Grundrechte der Menschenrechtskonvention durch den Staat suspendiert werden können. Lediglich das Recht auf Leben, das Folterverbot, das Verbot der Sklaverei und rückwirkende Strafgesetze sind nicht suspendierbar.
Der gelindeste gerade noch zum Ziel führende Eingriff
Die verfassungsrechtlich vorgesehene Möglichkeit, Grundrechtsbestimmungen einzuschränken oder sogar zu suspendieren, weist uns auf ein wichtiges Element demokratischer Staatlichkeit hin: Es ist der Gedanke der Solidarität, der von den Bürgern verlangt, in besonderen Krisenzeiten oder wenn es besondere öffentliche Interessen gebieten, Einschränkungen der individuellen Freiheiten hinzunehmen, um wichtige Interessen der Allgemeinheit zu schützen. Solidarität ist ein wesentliches Merkmal demokratischer Organisation; ohne Solidarität kann eine Demokratie nicht funktionieren. Das Spannungsverhältnis zwischen individuellen Freiheiten und Solidarität kommt in den Gesetzesvorbehalten der Menschenrechtskonvention schön zum Ausdruck: Wenn diese Grundrechtsbeschränkungen dann gestatten, wenn dies "in einer demokratischen Gesellschaft" erforderlich ist, um bestimmte Schutzgüter zu bewahren, dann zeigt sich darin, dass Solidarität ein wesentlicher Baustein einer Demokratie sein muss.
Von essenzieller Bedeutung ist, dass alle Einschränkungen der Grundrechte auf dem Boden der geltenden Rechtsordnung erfolgen. Sie müssen stets zum Schutz bestimmter öffentlicher Interessen notwendig und verhältnismäßig sein. Verhältnismäßig heißt: Es muss der gelindeste gerade noch zum Ziel führende Eingriff gewählt werden. Überschießende Eingriffe sind verfassungswidrig. Die Erfahrung zeigt, dass Politiker, die zu einer autoritären Einstellung neigen, derartige Situationen gerne dazu missbrauchen, Freiheitsbeschränkungen, die in Krisenzeiten notwendig waren, in eine "neue Normalität" zu übernehmen. Das gilt es zu verhindern, da heißt es wachsam sein.
Gerade in Zeiten einer großen Krise muss sich die Verfassung als stabilisierendes Element gesellschaftlicher Strukturen erweisen. Sie stellt einen unübersteigbaren Rahmen für das Handeln der Staatsorgane dar und ist auch - und gerade - in Zeiten großer Krisen streng zu beachten. Wer meint, in einer Krise käme es auf das Ergebnis und nicht auf den Weg zu diesem an, hat die Funktion einer Verfassung und die Demokratie nicht verstanden: Der Rechtsstaat macht auch in der Krise keinen Urlaub.