Justizministerium und Jugendexperten sind für Alternativen zur Jugendhaft.
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Wien. Die Vergewaltigung eines 14-jährigen U-Häftlings von Zellengenossen in der Justizanstalt Josefstadt hat heftige Diskussionen rund um den Jugendstrafvollzug ausgelöst. Was für Justizministerin Beatrix Karl ein Einzelfall ist, sehen andere als Notwendigkeit für neue Konzepte.
"In der Schweiz zum Beispiel kennt man den Begriff Jugendhaft gar nicht", erklärt Andreas Zembaty vom Verein Neustart. Der Verein arbeitet in den Bereichen Tatausgleich, Bewährungs- und Gerichtshilfe. Freiheitsentziehende Maßnahmen finden in der Schweiz wenn überhaupt nur in geschlossen Heimen statt: Unter dem Terminus "Vertrauensstrafvollzug" setzen die Schweizer auf betreute Wohngemeinschaften. Der Insasse wird hier nicht als passives Objekt der Überwachung wahrgenommen, sondern auch seine Verantwortung wird in den Prozess aktiv miteinbezogen.
Und das würde sich Zembaty auch für Österreich wünschen. "Denn die Richter bei uns sperren zu viel ein", meint der Experte. Immerhin steht Österreich in Sachen Jugendhaft weltweit im Spitzenfeld. In einer Studie aus Lausanne - im Mai 2013 in Straßburg publiziert - wurde in fast 50 Staaten der Anteil der Jugendlichen an der Gesamthäftlingsanzahl untersucht. "Und da sind wir jenseits des Durchschnitts - und zwar weit oben", so Zembaty. Das müsste aber nicht so sein, ist der Experte überzeugt. Denn man könne den Richtern zwar nicht vorschreiben, wen sie zu einer Haftstrafe verurteilen und wen nicht. Aber man könnte ihnen Alternativen anbieten.
Deswegen schlägt der Verein Neustart vor, eine Art Helferkonferenz einzuführen, um Menschen an einen Tisch zu bringen, die Ressourcen anbieten, um den betroffenen Jugendlichen zu helfen. Und zwar anhand von einem Vierstufen-Modell: In der ersten Stufe versucht man die Jugendlichen "mit einem blauen Auge" davonkommen zu lassen. Aber nur, wenn sie weder gefährlich noch dringend tatverdächtig sind und auch keinerlei soziale Probleme haben. Die zweite Stufe würde ebenfalls einen Freigang bedeuten, allerdings mit der Einschränkung einer Aufsicht durch die Bewährungshilfe. Die dritte Stufe ist Freigang plus Bewährungshilfe, plus elektronisch überwachten Hausarrest plus Jugendwohnheim. Und die vierte Stufe wäre dann ein gesperrtes Heim mit einer sozialpädagogischen Betreuung rund um die Uhr, was laut Zembaty aber durchaus mit einer geringen Besetzung durchführbar wäre, zumal es auch nur wenige Jugendliche betreffen würde.
In Gerasdorf sitzt niemand
"Wie sie sehen, wollen wir den Vollzug der U-Haft in einer für Erwachsene konzipierte Anstalt ausschließen. Denn gerade daraus entstehen oft die organisatorischen Probleme", betont Zembaty. Immerhin hat die Volksanwaltschaft den Zwischenfall in der Justizanstalt Josefstadt auf personelle Engpässe zurückgeführt. Und diese wiederum seien verantwortlich für unzumutbare "Einschlusszeiten" jugendlicher Häftlinge. Dabei hatte man beim letzten derartigen Zwischenfall vor zwei Jahren angekündigt, die Jugendlichen in eine jugendadäquatere Betreuung nach Gerasdorf zu transferieren. Derzeit sitzen aber offensichtlich 20 jugendliche U-Häftlinge in der Josefstadt und in Gerasdorf kein einziger.
Warum das so ist, erklärt der leitende Staatsanwalt in der Abteilung Strafvollzug im Justizministerium, Christian Schnattler. "Es macht wahrscheinlich nur Sinn, einen jugendlichen U-Häftling nach Gerasdorf zu verlegen, wenn er bereits zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, diese aber noch nicht rechtskräftig ist. Denn solange er sich in U-Haft befindet, ist die Nähe zum Gericht von Vorteil, weil doch immer wieder Befragungen, Vernehmungen und Hauptverhandlungen stattfinden", so Schnattler.
Dass die Richter in Österreich im europäischen Vergleich überdurchschnittlich viele Jugendliche einsperren, bezweifelt Schnattler nicht. Dabei gibt es laut dem Rechtsexperten bereits Alternativen, die dem Stufenmodell des Vereins Neustart gar nicht unähnlich sind. "Jeder Haftrichter hat die Möglichkeit, gegen Gelöbnis oder Auflagen aus der U-Haft zu enthaften. Eine Auflage kann zum Beispiel ein Aufenthalt in einer therapeutisch betreuten Wohneinrichtung sein. Und die Kosten dafür kann laut Jugendgerichtsgesetz Paragraf 46 das Gericht übernehmen", sagt der Experte.
Die zweite Alternative sei der elektronisch überwachte Hausarrest für den Jugendlichen in Verbindung mit einem Jugendheim. und eine Strafhaft in einer derartigen Einrichtung würde nach derzeitiger Rechtslage allerdings einer Gesetzesänderung bedürfen, meint Schnattler.
Entwicklungspotenzial
Warum allerdings kaum ein Richter davon Gebrauch macht, weiß der Jurist nicht. "Das wäre aber das Entwicklungspotenzial, wo man sich bewegen kann", ist Schnattler überzeugt. Seines Wissens sei der Wiener Landesgerichtspräsident Friedrich Forsthuber aber sehr engagiert in dieser Sache. "Er ist auch angeblich mit den dortigen Jugendrichtern im Gespräch, sich dementsprechend zu bewegen. Und das ist auf alle Fälle auch etwas, dem das Justizministerium positiv gegenübersteht. Die rechtlichen Rahmenbedingungen gibt es bereits."
Wissen: Jugendhaftstatistik
Die Studie "Council of Europe Annual Penal Statistics" wurde vom Institut de Criminologie et de droit pénal am 3. Mai 2013 in Straßburg publiziert und liefert die Jugendhäftlingszahlen von fast 50 Staaten. Dabei liegt der Anteil der Insassen unter 18 Jahren in Österreich bei 1,6 Prozent, wobei nur Monaco mit 12,5, Andorra mit 2,8, Albanien mit 2,7 und die Slowakei mit 2,1 Prozent weit darüber liegen. Darunter liegen Portugal und Irland mit 1,5 Prozent, Deutschland mit 1,4, Frankreich und Ungarn mit je 1,0, Polen mit 0,7 und die Schweiz mit 0,5 Prozent. Keine jugendlichen Insassen unter 18 hat es 2011 u.a. in Spanien, Schweden, Italien und Liechtenstein gegeben.