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Prozess gegen Elif Shafak eingestellt. | Schlägerei nach Urteilsverkündung. | Istanbul. (apa) Erst kam der Freispruch, dann die Schlägerei. Türkische Rechtsnationalisten scheiterten gestern, Donnerstag, mit dem Versuch, die Schriftstellerin Elif Shafak ins Gefängnis zu bringen, weil in ihrem jüngsten Roman der Völkermord an den Armeniern angesprochen wird. Ein Gericht in Istanbul sprach die 34-jährige Autorin kurz nach Prozessbeginn frei, weil es keine Beweise für eine "Beleidigung des Türkentums" in dem Roman gebe. Die Nationalisten, die den Prozess angestoßen und EU-Fahnen mit Hakenkreuzen zum Gericht mitgebracht hatten, konnten den Anblick der triumphierenden Anhänger von Shafak nach der Urteilsverkündung nicht ertragen und schlugen zu.
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Istanbuler Polizisten, die diesmal wesentlich besser vorbereitet waren als beim Prozess gegen den Autor Orhan Pamuk im vergangenen Jahr, gingen dazwischen und beendeten die Rauferei. Der Freispruch für Shafak ist ein Erfolg für den Reformprozess, doch nicht nur die Schlägerei ist ein Hinweis darauf, dass die Probleme des EU-Bewerbers Türkei mit der Meinungsfreiheit weiterhin bestehen bleiben.
In Shafaks Besteller "Der Bastard von Istanbul" denken einige Romanfiguren über den türkischen Völkermord an den anatolischen Armeniern im Ersten Weltkrieg nach - damit werde das "Türkentum" beleidigt, argumentierte der nationalistische Anwalt Kemal Kerincsiz, der schon Pamuk vor Gericht brachte und eine ganze Reihe anderer Prozesse gegen Intellektuelle in Gang gesetzt hat. Kerincsiz Hauptinstrument ist der Strafrechtsparagraph 301, der bei einer "Beleidigung des Türkentums" bis zu drei Jahre Haft vorsieht.
Doch das Gericht sah keine Straftat vorliegen. "Sehr froh" über das Urteil zeigte sich die Autorin, die fünf Tage zuvor eine Tochter geboren hatte und deshalb nicht zur Verhandlung erschienen war. Auch der EU-Parlamentarier und Türkei-Spezialist Joost Lagendijk war zufrieden.
Übersetzer vor Gericht
Getrübt wurde die Freude über den Ausgang des Verfahrens durch das Gerangel vor dem Gerichtssaal, in dem Shafak einen weiteren erschreckenden Beweis für die "Lynch-Kultur" in ihrem Land sieht. Und auch der Freispruch selbst wird das Thema der angeblichen "Meinungsdelikte" in der Türkei nicht beenden. Nur einen Tag vor dem Verfahren gegen die Autorin standen in Istanbul zwei Übersetzer vor Gericht, denen vorgeworfen wird, durch die Übertragung eines amerikanischen Buches ins Türkische das "Türkentum" beleidigt zu haben.
Der Paragraph 301 müsse geändert oder abgeschafft werden, fordern deshalb die EU und türkische Reformanhänger. Zumindest müsse klargestellt werden, dass von einer Beleidigung des Staates nur dann die Rede sein könne, wenn die öffentliche Ordnung bedroht sei, verlangte Shafaks Anwalt Fikret Ilkiz.