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Zunächst ist nur der Kopf des Mädchens hinter dem Gewirr aus Bauschutt, Betonplatten und Rohrleitungen zu erkennen. Voller Angst schaut es aus seinem Gefängnis, in das es in der Nacht auf
Dienstag von dem schweren Erdbeben im Nordwesten der Türkei geworfen wurde. Die Retter kommen nur langsam voran, mit einer kleinen Eisensäge durchtrennen sie mühsam und Stück für Stück die Rohre und
arbeiten sich so an sie heran. Dann bricht unter den Helfern auf dem Schutthügel, der bis vor kurzem noch ein Haus war, Jubel und Beifall aus: Einer der Männer trägt das weinende Mädchen
triumphierend hinunter zur Straße und zum Arzt.
Die ganze Nacht hindurch suchen die freiwilligen Helfer nach Überlebenden in den Trümmern zusammengestürzter Häuser. Manche Gebäude, die trotz der Erdstöße stehen geblieben sind, wurden an der Seite
aufgerissen wie Puppenhäuser. Fast intakte Wohnzimmereinrichtungen sind sichtbar, blütenweiße Vorhänge sind wie Schleier über Schuttberge gebreitet. Die Helfer stoßen immer wieder auf die
traurigen Überreste von glücklichen Familienleben: Erinnerungsfotos, Bilder von Verwandten, Kleidungsstücke, Briefe, Schuhe.
Wie Ausgebombte nehmen die Menschen ihre armselige Habe mit auf die Straßen und Plätze und in die Parks von Istanbul und der anderen Städte im Erdbebengebiet, wo sie die erste Nacht nach der
Katastrophe verbringen. Mit der Hilfe von ein paar Holzknüppeln und Decken entstehen auf diese Weise in wenigen Stunden ganze Zeltstädte. Manche gehen in ihre beschädigten Häuser zurück und holen
etwas zu Essen, Gaskocher für den Tee, der unverzichtbarer ist denn je, ein paar Plastikmöbel und etwas Kleidung für die ersten Tage.
Manche verlassen die Ruinen ihrer Häuser aber noch nicht einmal für die kurzen Nachtstunden. Mit zäher Verbissenheit versuchen die Menschen, mit den primitivsten Hilfsmitteln oder nur mit bloßen
Händen nach Verwandten oder Freunden zu suchen. Oft genug geschieht das Unfassbare und die Gesuchten werden gerettet. Die Suche nach Überlebenden beginnt häufig mit einem Ruf. "Murat, wo bist du?",
schreit ein Mann in ein Durcheinander aus Betonplatten und Mauerstücken hinein. Durch eine Lücke späht er ins innere der Hausruine, während er und andere Helfer auf Lebenszeichen horchen.
Ohne die Hilfe des Staates abzuwarten, die vielerorts ohnehin viel zu spät eintrifft, nehmen die Menschen die Rettungsversuche selbst in die Hand. An manchen Orten treffen im Laufe der Stunden
Soldaten ein, aber die zivilen Behörden lassen sich meist viel länger Zeit · sei es aus Unfähigkeit, oder weil sie von der Katastrophe schlicht überwältigt werden.
Doch selbst, wenn die Behörden endlich anrücken, treffen sie nicht überall auf Begeisterung. So protestierten Verwandte und Freunde von Erdbebenopfern vor einem zusammengestürzten Haus in der
Stadt Sakarya lautstark gegen einen anrollenden Bulldozer: Sie befürchten, dass bei der Räumung der Ruine möglicherweise noch unter den Trümmern verschüttete Überlebende zu Schaden kommen könnten.
Viele dieser Menschen, die alles verloren haben, was ihrem Leben bisher Sinn gab, schreien ihre Verzweiflung heraus. Remsiye Analar, die mit ihrer Familie aus Diyarbakir im türkischen Kurdengebiet
ins nodwesttürkische Bolu gekommen war, um ein neues Leben zu beginnen, bricht weinend zusammen, als ihr der Leichnam ihres dreijährigen Sohnes Agit Hüseyin in die Arme gelegt wird, der bei
dem Beben ums Leben kam. "Ich habe alles getan, damit meinem Kind nichts geschieht", klagt die Frau. "Doch das Beben hat mir meinen Sohn genommen."
Für Aydin Yildirim war das Beben ein Albtraum aus seiner Jugend, der sich in der Nacht zum Dienstag wiederholte und zur Katastrophe wurde. Aydin musste 1992 in Ersincan im Osten der Türkei erleben,
wie sein Vater bei einem Erdbeben starb; er selbst wurde damals verletzt. Später zog er nach Istanbul, um zu studieren. Als Dienstag früh die Erde bebte, geriet Aydin in Panik. Er ging auf den Balkon
seiner Wohnung im vierten Stock eines Mietshauses, sprang über die Brüstung, um sich zu retten · und starb auf dem Asphalt.