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New York - Die Handbewegungen waren das Schlimmste. Diese geschmeidigen Finger, mit denen der grinsende Osama Bin Laden seine Erklärungen untermalte: "Wir hatten die Zahl der Opfer im Voraus berechnet." Eins, zwei, drei, einige tausend Tote, je mehr desto besser, so wirkten seine Fingerspiele. In der schwer getroffenen Stadt, die bis heute die Terrorangriffe auf ihr weithin sichtbares Wahrzeichen nicht überwunden hat, war der arabische Terroristenführer einmal mehr allgegenwärtig, gehasst und gefürchtet zugleich.
Tausende hielten inne, als das lange erwartete Bin-Laden-Video plötzlich über die riesigen Bildschirme am Times Square flimmerte. Fast überall, wo in New York Fernsehapparate stehen, verstummten die Gespräche. In Tausenden von Kneipen, in den Wartezimmern von Zahnärzten, Rechtsanwälten oder Behörden. In den Hallen der Flughäfen und auch im Betreuungszentrum für Angehörige der mehr als 3.000 Toten der Terroranschläge auf das World Trade Center.
"Abschalten, abschalten, ich kann diesen Wahnsinnigen nicht mehr sehen", rief eine alte schwarze Frau. "Er ist der Mörder meiner Enkeltochter, wie könnt ihr diese Fresse dauernd zeigen?" Ähnlich reagierte Melissa Green, die gekommen war, um Antragsformulare für finanzielle Zuschüsse aus den Spendenfonds für Hinterbliebene der Opfer auszufüllen. "Diese Handbewegungen machen mich verrückt. Habt ihr das gesehen, wie das Schwein mit seinen Händen genau zeigt, wo die Flugzeuge eingeschlagen sind?"
Diese Szene hat die New Yorker wohl am meisten empört. Sie hat die tiefe Kränkung nicht nur wiederholt, die sie mit dem Massenmord am
11. September erfahren haben. Sie hat die Beleidigung ihres Selbstwertgefühls als Bewohner der "Hauptstadt der Welt" - egal ob sie in der armen Bronx oder im Millionärsviertel am Central Park leben - noch mehr verschärft.
Die Medien trugen dazu nach Kräften bei. Nachdem das eigentlich unattraktive Amateurvideo tagsüber wie eine Dauerschleife auf den Fernsehsendern lief, gingen die TV-Stationen bald zu aufrüttelnden Montagen über. Beim Sender NBC sah man Bin Laden in Nahaufnahme in der oberen Hälfte des Bildschirms über dem dazu montierten brennenden World Trade Center: Das Gesicht des Satans über dem Massengrab.
"Überhaupt nichts in diesem Video kann es schlimmer machen, als alles schon ist", fand Stephen Porsher. Der Lehrer hat seine Frau im World Trade Center verloren. "Wir bekommen hier nur bestätigt, dass der Mann geisteskrank ist. Das macht die Toten nicht lebendig." New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani nutzte die Gelegenheit, um eines seiner bevorzugten Themen anzusprechen - die Todesstrafe. Im Bundesstaat New York ist sie nach heftigen politischen Debatten vor einigen Jahren wieder eingeführt, aber seitdem nie angewandt worden. "Dieses Video zeigt, dass wir sie vollstrecken müssen", sagte der frühere Staatsanwalt.