)
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Weihnachtslieder aus dem Schützengraben, Waffenruhe unter Tannenbäumchen: Was sich am 24. Dezember 1914 nahe Ypern in Belgien abgespielt hat, ist als seltene Ausnahme in die Geschichte des Ersten Weltkriegs und damit auch in die Weltgeschichte eingegangen. Deutsche Soldaten hatten von ihrer Heeresleitung kleine Christbäume erhalten und am Rand ihrer Stellungen aufgebaut. Dann stimmten sie Weihnachtslieder an. Einige Melodien, etwa jene von "Stille Nacht", waren auch den Briten bekannt. Sie sangen in ihrer Sprache mit. Schließlich riefen die Soldaten einander Weihnachtswünsche zu, verließen sogar ihre Schützengräben und schüttelten einander die Hände.
Ritterliche Momente
An mehreren Abschnitten der damaligen Westfront soll es um Weihnachten 1914 zu solchen Verbrüderungen gekommen sein. Man zeigte einander Familienfotos und tauschte sogar kleine Geschenke aus. Mindestens 100.000 deutsche und britische Soldaten, darunter auch Offiziere, dürften den spontan entstandenen Waffenstillstand eingehalten haben.
So furchtbar der Krieg war, er hatte damals noch eine ritterliche Seite. Gemäß der soldatischen Tradition des 19. Jahrhunderts gab es im Ersten Weltkrieg auch noch gelegentlich kurzfristige Vereinbarungen über die Pflege von Verwundeten und die Bergung von Toten, die in offiziellen Armeeberichten nie aufschienen.
Ab dem 26. Dezember war es aber meist mit den Feuerpausen vorbei, nur in einzelnen Fällen sollen sie bis Jänner 1915 gedauert haben, vor allem dort, wo schottische Soldaten noch den Neujahrstag besonders feiern wollten. Von zwei Captains der Royal Welsh Fusiliers liegt ein Bericht vor, wie der Waffenstillstand zu Ende ging: Um halb neun Uhr wurden drei Schüsse in die Luft abgegeben. Ein britischer Offizier hisste eine Flagge, auf der "Merry Christmas" stand, auf der Gegenseite hielt ein deutscher Hauptmann ein Tuch mit der Aufschrift "Thank you" in die Höhe. Beide salutierten und gingen in ihre Stellungen zurück. Ein deutscher Soldat schoss zweimal in die Luft, dann nahm der Krieg wieder seinen Lauf.
Nur für kurze Zeit konnte damals der weihnachtliche Friedensgedanke den Krieg verdrängen. Auch spätere Waffenruhen zur Weihnachtszeit - etwa im Vietnamkrieg - blieben sporadische Episoden in gewaltsamen Konflikten, für die es anscheinend immer gute Gründe und Befürworter gab. "Eine friedliche und einträchtige Welt ist der geheime Alptraum aller Militärs und Advokaten", so brachte es der amerikanische Schriftsteller Norman Mailer einmal auf den Punkt.
"Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden den Menschen seiner Gnade." Dieser Satz aus dem Lukas-Evangelium (2,14), einem Engelheer auf dem Hirtenfeld bei Bethlehem in den Mund gelegt, begründet den Ruf von Weihnachten als Friedensfest. Die Menschwerdung Gottes breitet Frieden über seiner Schöpfung aus, sie lässt das Zeitalter anbrechen, dessen Ende bei Jesaja (11, 6-9) im Alten Testament so verheißen wurde: "Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange. Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist."
"Im Namen Gottes"
Immer wieder heißt es in der Bibel "Friede sei mit euch" und "Fürchtet euch nicht". Faktum ist, dass mit der Geburt Christi nicht der dauerhafte Frieden auf Erden eingekehrt ist, weder für die, die Gott verehren, noch für jene, die das nicht tun. Man kann darüber streiten, ob die Verehrung Gottes und der Friede überhaupt etwas miteinander zu tun haben, zu blutig ist die Spur, die Menschen "im Namen Gottes" durch die Weltgeschichte gezogen haben: als grausame Verfolger Andersgläubiger, in gewalttätigem Missionarismus, als Kreuzfahrer, Inquisitoren, Hexenjäger, terroristische "Gotteskrieger" und dergleichen mehr.
Mögen etliche von ihnen auch nicht wirklich fromm und gottesfürchtig gewesen sein und die jeweilige Religion nur instrumentalisiert haben, mögen die größten Massenmörder aus jüngerer Zeit eindeutig antireligiös eingestellte Typen wie Adolf Hitler, Josef Stalin oder Pol Pot gewesen sein, auch an den Händen mutmaßlich überzeugter Gläubiger klebt viel unschuldiges Blut. Beileibe nicht nur zur eigenen Verteidigung wurde gefoltert und gemordet.
Krieg, Gewalt und Unterdrückung gehörten von Anfang an zur Menschheitsgeschichte, sie begleiteten auch die Entwicklung und Verbreitung der Weltreligionen, ob Judentum, Christentum oder Islam. Den Anfang dieser Religionen prägten Flucht, Verfolgung und Martyrium. Die Israeliten mussten aus Ägypten fliehen, wo später wieder - zumindest behauptet das die Bibel - das kleine Jesuskind mit seinen Eltern Zuflucht vor den Schergen des Herodes suchte. Mit der Hedschra, der Flucht des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina im Jahr 622 nach Christus, beginnt die islamische Zeitrechnung.
Opfer und Täter
Jede Religion hat ihre Märtyrer, mögen auch die Vorstellungen von Martyrium unterschiedlich sein. Für ihren Glauben starben sowohl die sieben zu Tode gequälten jüdischen Makkabäerbrüder wie auch im Kampf der von den Schiiten besonders verehrte Enkel Mohammeds, Husain ibn Ali, oder auch die vielen grausam hingerichteten christlichen Blutzeugen der römischen Kaiserzeit. Doch die Angehörigen großer Religionen waren nicht nur Opfer, sondern auch selbst Verfolger und Gewalttäter. Im Namen der Religion wurden mit der Waffe "Bekehrungen" erzwungen. Diejenigen, die sich nicht zum Glauben der Mehrheit bekannten, wurden bekämpft. In mehreren islamischen Ländern steht auf den Abfall vom muslimischen Glauben noch heute die Todesstrafe.
Der Satz, auf den sich bibelfeste Gewaltbefürworter - vermutlich auch der Urheber des Massakers in Norwegen im Juli 2011, Anders Behring Breivik, der sich selbst als "100-prozentiger Christ" sieht - berufen, steht im Matthäus-Evangelium (10,34) und lautet: "Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert." Wer hier sprachlich tiefer bohrt, wird dieses Jesus-Wort aber eher mit "Spaltung" oder "Zwietracht" übersetzen und hier die mögliche Kluft zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden, auch im engeren Familienkreis, als Konfliktquelle angesprochen sehen, worauf auch der weitere Text hinweist: "Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein."
Schon das Kind Jesus hat nicht nur Freude ausgelöst, lässt der Evangelist Matthäus bereits in seinem zweiten Kapitel erkennen. Sterndeuter kommen nach Jerusalem, erzählen von einem neu geborenen König, dessen Stern sie haben aufgehen sehen, und erkundigen sich, wo dieser zu finden sei. "Als König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem" (Matthäus 2,3), heißt es.
Der Grund für diese Angst liegt auf der Hand, wenn man sich vor Augen hält, was im sogenannten Magnificat (Lukas-Evangelium 1,51-53) die schwangere Maria über Gott sagt: "Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: / Er zerstreut, /die im Herzen voll Hochmut sind. / Er stürzt die Mächtigen vom Thron / und erhöht die Niedrigen." Diktatoren und Ausbeuter, deren Zeit - wie gerade das Jahr 2011 in Nordafrika gezeigt hat - plötzlich um sein kann, geraten in Panik, wenn ihre Macht bedroht erscheint.
Der Glaube kann Berge versetzen, aber sehr oft auch Stein des Anstoßes sein. Nicht nur Religionen haben einander bekriegt, auch Gruppen innerhalb dieser Religionen (Katholiken und Protestanten am Grauenvollsten im Dreißigjährigen Krieg, Sunniten und Schiiten immer wieder in der islamischen Geschichte). Unter religiösen Regimen wurden Abweichler eingesperrt oder hingerichtet, unter atheistischer Herrschaft riskierten Gläubige ihr Leben oder die Einweisung in Lager oder psychiatrische Anstalten.
Wer meint, die Frage nach dem richtigen Glauben mit Gewalt lösen zu können, ist garantiert auf dem Holzweg. Es ist schlicht und einfach ein Menschenrecht, zu glauben oder nicht zu glauben. Wenn ein Gott diese Welt geschaffen hat, so gab er ihr offenbar einige Freiheit, sich zu entwickeln, und den Menschen zwar nach Auffassung der Religionen das Gebot, an ihn zu glauben, aber auch die Freiheit, nicht an ihn zu glauben. Die Aufgabe gläubiger Christen besteht nur darin, ihren Glauben auch ihren Mitmenschen zu verkünden. Es ist widersinnig, wenn sich religiöse Fundamentalisten anmaßen, mit Feuer und Schwert Nicht- und Andersgläubigen deren Freiheit, etwas anderes zu glauben, auszutreiben.
Wer den Satz Jesu, er sei gekommen, das Schwert zu bringen, als Alibi oder gar als Auftrag deutet, um in Konflikten gleich zur Waffe zu greifen, übersieht bewusst oder unbewusst weit aussagekräftigere Stellen im Neuen Testament, die ganz und gar nicht den Einsatz von Gewalt nahelegen. Als Jesus am Ölberg gefangen genommen wird, weist er Petrus, der das mit dem Schwert verhindern will, zurecht: "Steck dein Schwert in die Scheide; denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen." (Matthäus 26,52)
Am deutlichsten lehnt Jesus Gewalt in der Bergpredigt ab (Matthäus, 5. Kapitel): "Verzichtet auf Gegenwehr, wenn euch jemand Böses antut! Mehr noch: Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die linke hin." Dort preist er neben etlichen anderen Menschen vor allem auch diejenigen "selig, die Frieden stiften". Mit dem hebräischen Begriff "schalom" für Friede ist viel mehr gemeint als die Abwesenheit von Krieg und Gewalt, nämlich ein Zustand der Harmonie, der Zufriedenheit und des Wohlbefindens, wie er nur dort besteht, wo Liebe, Gerechtigkeit, Wahrheit und Achtung der Menschenwürde regieren und Gottes Zuwendung zu seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen spürbar ist.
Krieg und Unrecht
Der "konziliare Prozess" der christlichen Kirchen, der mit der Einbeziehung der römisch-katholischen Kirche auf der ökumenischen Versammlung in Basel 1989 richtig ins Rollen kam, stellt denn auch "Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung" in einen Zusammenhang.
Friede wird überall dort in Frage gestellt, wo großes Unrecht geschieht oder Lebensgrundlagen zerstört werden, wo man fragwürdige oder eindeutig kritikwürdige politische oder ökonomische Entscheidungen trifft. Sich mit frisierten Zahlen in eine Währungsunion hineinzuschwindeln, ist sicher kein zum Frieden beitragender Schritt. Und was sind das für Signale, wenn Pleiten mit Bonuszahlungen belohnt werden, wenn ein Staat wie Kanada sich aus einem Klimaabkommen davonstiehlt, wenn ein Land wie Japan mit Hilfsgeldern für die Katastrophenopfer von Fukushima seine Walfangflotte ausrüstet?
Kriege zwischen Ländern mögen selten geworden sein, Gewalt innerhalb von Staaten - wie derzeit vor allem im arabischen Raum - scheint jedoch zuzunehmen. Man kann davon ausgehen, dass die Flüchtlingsströme in die reichen Länder wachsen und sich zugleich die dortigen Protestbewegungen gegen die Dominanz der Finanzwirtschaft ausweiten werden. In einer Welt, in der zu viel Ungleichheit herrscht, wird der auf die Französische Revolu-tion zurückgehende Ruf "Friede den Hütten, Krieg den Palästen" nicht verstummen - womit wir wieder beim Krieg wären. Nicht nur Kulturpessimisten fürchten, dass der angesammelte soziale Sprengstoff auch in den Industrieländern demnächst in Wellen der Gewalt explodieren könnte.
Mit Recht sagte der deutsche Philosoph Karl Jaspers: "Der Friede beginnt im eigenen Haus." Dieser Friede ist schon dort bedroht, wo in Bagatellfällen das eigene Recht kleinlich eingefordert wird, wo Familienangehörige um Kleinigkeiten streiten, wo man sich am Sozialstaat ungerechtfertigt bedient, "weil das ohnehin alle tun", wo Medien zynisch Wahrheit und Menschenwürde ignorieren, Neidkomplexe schüren und fast jeden Tag das Wort "Unschuldsvermutung" verwenden müssen. Und weil Geiz so geil ist, haben wir ja auch "nichts zu verschenken". "Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt", steht in Friedrich Schillers "Wilhelm Tell". Die Frömmsten scheinen selten, die bösen Nachbarn zahlreich geworden zu sein.
Aber es gibt auch noch die Friedensstifter, denen schon vor der biblisch verheißenen Seligkeit unter Umständen auch ein Friedensnobelpreis winkt. Nicht immer waren die diesbezüglichen Entscheidungen unumstritten. Die diesjährige Wahl der liberianischen Frauenrechtlerinnen Ellen Johnson-Sirleaf und Leymah Gbowee sowie der für Frauen engagierten jemenitischen Journalistin Tawakkul Karman fanden aber - wie meistens, wenn der Preis Frauen zuerkannt wurde - weitgehend Zustimmung. Der jüngst verstorbene tschechische Staatsmann und Schriftsteller Vaclav Havel wäre des Preises aber sicher würdiger gewesen als manche andere, die ihn in den Jahren zuvor bekommen haben. Nicht nur im Namen der Religion - aber in deren Namen schon viel zu oft - ist der Friede immer wieder verletzt worden. Zumindest im Christentum setzen heute die führenden Kräfte in Konfliktfällen eindeutig auf friedliche Lösungen. Dafür könnte man eine Reihe von Beispielen - auch die von Papst Johannes Paul II. initiierten Friedensgebete der Religionen in Assisi - anführen, neuerdings sogar den Umgang mit innerkirchlichen Kritikern wie jenen österreichischen Pfarrern, die 2011 mit ihrem "Aufruf zum Ungehorsam" für Unruhe sorgten.
Man weiß aber auch, dass Johannes Paul II. vor 30 Jahren persönlich erfolgreich einen Grenzstreit zwischen Chile und Argentinien im Beagle-Kanal schlichtete. Ein engagierter Laie, der 2011 in die italienische Regierung aufgenommene Historiker Andrea Riccardi, hat mit der von ihm gegründeten katholischen Gemeinschaft "Sant’ Egidio" einiges an Friedensarbeit geleistet, insbesondere im Libanon und in Mosambik.
Grenzen der Toleranz
Eintreten für den Frieden bedeutet auch Toleranz, soweit sie möglich ist. Wo sie enden muss, hat zum Beispiel der Innsbrucker Alt-Bischof Reinhold Stecher, der dieser Tage seinen 90. Geburtstag feierte, aufgezeigt. Den antisemitisch geprägten Anderl-von-Rinn-Kult (um ein angeblich einem jüdischen Ritualmord zum Opfer gefallenes Kind) hat er ebenso verboten wie die Verbreitung der abergläubischen Lehren des Engelwerks.
Auch um des lieben Friedens willen darf nicht widerspruchslos akzeptiert werden, wenn hierzulande in der politischen Auseinandersetzung mit Schlagworten wie "Daham statt Islam" und "Pummerin statt Muezzin" gearbeitet oder gegen einen buddhistischen Tempel im Waldviertel als "Götzentempel" gewettert wird. Das erinnert fast an die fanatischen Taliban, die Weltkulturgut wie die uralten Buddha-Statuen von Bamiyan (Afghanistan) weggesprengt haben. Zugleich ist natürlich einzufordern, dass auch Christen in islamischen Ländern nicht diskriminiert werden und nicht, wie gerade jetzt zu Weihnachten, um Leib und Leben bangen müssen, wenn sie einen Gottesdienst besuchen wollen. Die weltweite Herstellung echter Religionsfreiheit ist die Aufgabe dieses Jahrhunderts.
Wenn am Heiligen Abend die Weihnachtsglocken die Hektik unserer betriebsamen Welt kurz in den Hintergrund drängen, schwingt jedenfalls für den, der hören will, auch jener Gedanke mit, mit dem Friedrich Schiller sein "Lied von der Glocke" enden lässt: "Friede sei ihr erst Geläute."
Eine kurze "Feuerpause" in unseren kleineren und größeren Konflikten erscheint zu Weihnachten möglich, der dauerhaften Frieden prophezeiende Jesaja-Text (2,4) bleibt freilich vorläufig Vision: "Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg."
Heiner Boberski, geb. 1950, ist Redakteur bei der "Wiener Zeitung" und mehrfacher Buchautor.