Übersehen wird beim aktuellen Terror der ökonomische Aspekt. Hochgerüstete Konsumgesellschaften, die den Menschen die Würde genommen haben, spucken die Knochen der Verlierer aus.
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Europa hat den Frieden und die Freiheit verloren. Mehr als 130 Menschen haben in Paris im Kugelhagel ihr Leben gelassen, hunderte sind zum Teil schwer verletzt. Der IS-Terror hat die Grenzen Europas übersprungen; Staatspräsident François Hollande sieht Frankreich im Krieg mit dem IS; Papst Franziskus spricht von einem Dritten Weltkrieg. Das ist traurige Wahrheit, die in ihrer ganzen Dimension langsam Kontur annimmt. Frankreich fliegt schwere Luftangriffe auf IS-Einrichtungen, ein militärischer Einsatz mit Bodentruppen in Syrien wird immer lauter gefordert. Der Terror hat sich in den Köpfen festgesetzt und er bildet Metastasen.
Doch die Finger richten sich bei der Ursachenforschung vorschnell nur auf den IS mit seiner extremen Religionseinfärbung. Übersehen wird der ökonomische Aspekt. Hochgerüstete Konsumgesellschaften, die den Menschen die Würde genommen haben, spucken die Knochen der Verlierer aus. Jakob Augstein, Chefredakteur der Wochenzeitung "Der Freitag", hat ein neues "Dienstleistungsproletariat" ausgemacht, das im Schatten der Überflussgesellschaft entstanden ist.
Überlebenskämpfe an den Fressnäpfen, das ist die absurde Realität der Verlierer hinter den Glitzerfassaden. Der Gedanke des Gemeinwesens in seiner einfachsten Ausprägung passt nicht in die Casino-Mentalität der bissigen Ökonomie unserer Tage. Die Normative Kraft der Globalisierung hat den Anarchismus als ihren Gegenpart hervorgebracht. Die Verlierer sind chancenlos, sie werden anfällig für Heilsversprechungen, die Gefahr, in Extreme abzurutschen, ist groß. Terror ist ein Kind der enthemmten Ökonomie.
Friede ist für die freie Welt zur Selbstverständlichkeit geworden. Doch er ist der Ausnahmezustand. In Friede und Freiheit zu leben, das heißt, privilegiert zu leben. Dieses Privileg erfordert Engagement bis hin zur Verteidigung. Das ist ein hoher Preis, der aber immer höher wird, je länger man sich blind stellt. Freiheit bedarf jedoch nicht nur der Verteidigung, sondern auch der kritischen Distanz. Denn Freiheit birgt in sich die Unfreiheit. Wer die Freiheit der Wahl hat, kann immer auch die Alternative wählen, sprich Terror und Unterjochung. Wer wie der freie Westen Werte-Export betreibt, hat dies einzukalkulieren. Wer den Baum der Erkenntnis meiden soll, ist auf die Wahlmöglichkeit hingewiesen worden.
Es gibt Gesellschaften mit kulturellen Koordinaten, die mit den Vorstellungen einer offenen, freiheitlichen Wertegemeinschaft westlicher Prägung nicht kompatibel sind. Das lässt sich auch mit ökonomischer Arroganz nicht vom Tisch wischen. Und schon gar nicht mit den Unbedachtheiten des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush, der zu Beginn des Irak-Krieges den Kreuzzugsgedanken neu belebte.
Demokratische Vernebelungsrethorik, hinter der in Euro und Dollar gerechnet wird, produziert eben auch Verlierer und kann Ohnmacht und Hass befeuern. Das sollte auch eine Erkenntnis aus dem abscheulichen Morden von Paris sein.