Widerrede zum Gastkommentar von Alexander von der Decken am 24. November 2015.
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Stellen wir vorerst zwei Dinge außer Streit: Ja, die Länder, aus denen die muslimischen Attentäter kommen, waren vor langer Zeit Kolonien oder zumindest unter dem Einfluß der damaligen Weltmächte. Die Grenzen vieler Länder wurden von diesen Mächten mehr oder weniger willkürlich gezogen. Ja, die USA haben mit ihren, durchaus auch wirtschaftlich motivierten Interventionen in Afghanistan und dem Irak diesen Ländern keine funktionierende Demokratie gebracht und letztlich Chaos und Bürgerkrieg begünstigt.
Von der Decken schreibt richtigerweise: "Es gibt Gesellschaften mit kulturellen Koordinaten, die mit den Vorstellungen einer offenen, freiheitlichen Wertegemeinschaft westlicher Prägung nicht kompatibel sind." Was meint er damit? Sollen wir uns damit abfinden, dass solche diktatorisch regierten Gesellschaften unter dem archaischen Recht der Scharia und des Korans Frauen unterdrücken und steinigen, Homosexuelle töten, Falschgläubige versklaven und eben immer wieder in unseren Breiten, wo "die Casino-Mentalität der bissigen Ökonomie" herrscht, blutige Anschläge verüben? Warum muss Europa Flüchtlingen aus diesen mit der freiheitlichen Wertegemeinschaft westlicher Prägung nicht kompatiblen Gesellschaften alternativlos seine Tore öffnen, warum verliert Europa seine Identität, wenn es den freien Zugang einschränkt (siehe seinen Kommentar vom 25. August 2015 in der "Wiener Zeitung")?
Von der Decken kritisiert, dass sich bei der Ursachenforschung für die Attentate die Finger vorschnell nur auf den IS richten. Schuld seien doch auch "hochgerüstete Konsumgesellschaften, die den Menschen die Würde genommen haben". Also tragen wir in Überflußgesellschaften lebende Europäer und Amerikaner Schuld an der Bevölkerungsexplosion in den Krisenländern mit ihren negativen Folgen für den Arbeitsmarkt und die Versorgungslage; daran, dass sich die dortigen "Eliten" maßlos bereichern und ihr Land aussaugen und Einkommensungleichheiten zulassen, über die kein Piketty schreibt; daran, dass sich Sunniten und Schiiten auf’s Messer bekämpfen?
Gerade wir Europäer haben mit der Demokratie und der Sozialen Marktwirtschaft, die - bei all ihren Unzulänglichkeiten - den Menschen Würde durch Wohlstand und sozialer Absicherung gebracht haben, ein globales Vorzeigemodell geschaffen.
Nein, Friede ist kein Privileg, sondern eine hart erarbeitete Errungenschaft, die immer von Neuem erkämpft und gesichert werden muss. Europa hat einen hohen Preis für diesen Frieden bezahlt, angefangen von der Französischen Revolution, über weitere unzählige Kriege bis zu den zwei katastrophalen Weltkriegen. Wenn Europa ein Privileg hatte, war es das der Aufklärung. Aber auch dieses Privileg ist uns nicht in den Schoß gefallen.
Die Europäische Union ist die Grundlage und der, wenngleich noch sehr unvollkommene, Rahmen für dieses Erfolgsmodell. Lassen wir es uns nicht durch Herrn von der Decken mit seinen Schuldzuweisungen und Abqualifizierungen, wie "Dienstleistungsproletariat" oder "Überlebenskämpfen an den Fressnäpfen", schlechtmachen.