Zum Hauptinhalt springen

"Frieden ist ein Prozess, kein Event"

Von Konstanze Walther

Politik
Manche Kindersoldaten realisieren nicht einmal, was Vergewaltigung ist, erzählt Friedensnobelpreisträgerin Gbowee.
© Martin Schwarz

Leymha Gbowee über sexuelle Gewalt gegen Frauen in Krisengebieten und die schwierige Versöhnung danach.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Das westafrikanische Land Liberia erlebte bis 2003 mehr als zwanzig Jahre blutigen Bürgerkrieg. Bei den Kämpfen zwischen Diktator Charles Taylor und zwei Rebellengruppen Lurd und Model kam zunehmend die Bevölkerung unter die Räder. Zur Rekrutierung wurden Kindern Waffen in die Hand gedrückt und ihnen gesagt: "Nimm dir, was dir im Weg steht." Rund die Hälfte der Frauen wurde Opfer von sexueller Gewalt. Die junge Mutter Leymah Gbowee hatte eines Tages genug von der Gewalt, die ihr Land Liberia zerfressen hat. In der Kirche initiierte sie eine interkonfessionelle Friedensbewegung. Die weiß gekleideten Frauen machten mittels friedlichen Protesten und öffentlichen Gebeten Druck durch ihre sichtbare numerische Größe. Die Ankündigung eines Sexstreiks machte sie auch über die Grenzen medial interessant. Durch die Beharrlichkeit erzwangen die Frauen die Kriegsparteien an einen Tisch. Nach Jahrzehnten kam das Land endlich zur Ruhe. Ex-Diktator Taylor wurde vom UN-Tribunal zu 50 Jahren Haft verurteilt.

"Wiener Zeitung": Sie arbeiten in Liberia im Aussöhnungsprozess auch mit ehemaligen Kindersoldaten, die mit Waffen und Drogen versorgt worden waren. Wie kann man diese Menschen, die nichts anderes mehr kennen, in eine Gesellschaft integrieren?

Leymah Gbowee: Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ich habe einen 16-jährigen ehemaligen Kindersoldaten gefragt: "Hast du im Krieg Frauen vergewaltigt?" Das hat er ehrlich verneint. Dann habe ich begriffen, dass er die Frage nicht versteht, und habe es noch einmal versucht: "Hast du in der Zeit, in der du Waffen getragen hast, jemals eine Frau gezwungen, mit dir Sex zu haben?" Ja, hat er gesagt, aber das sei doch keine Vergewaltigung. Dafür seien Frauen doch da. Er hat kein Unrechtsbewusstsein. Der Prozess der Integration von jedem Kriegsüberlebenden, sei es Täter oder Opfer, wird immer sehr lange dauern. Man sagt, Frieden sei ein Prozess, kein Event. Es hat Jahre gedauert, bis diese Person zu einem Mörder geworden ist. Und ein sechsmonatiges Wiedereingliederungsprogramm wird diese Entwicklung nicht umdrehen können. Man muss sich bewusst sein, dass es das ganze Leben dauern kann. Ausgangspunkt ist, dass man den Tätern die Möglichkeit geben muss, ihre Taten zu realisieren und Verantwortung zu übernehmen. Aber auch die Gemeinschaft hat ihre Rolle. Wenn der Täter seine Taten anerkennt und akzeptiert hat, muss die Gemeinschaft auch den Täter akzeptieren. Wiedereingliederung kann nicht in einer feindlich gesinnten Umgebung geschehen. Wenn man mit einem Kindersoldaten arbeitet, arbeitet man nicht nur mit diesem Soldaten, sondern auch mit der Gemeinschaft, zu der er gehören soll. Auf diesen Aspekt wird oft vergessen.

Nach dem Bürgerkrieg und dem Friedensprozess, den Ihre Frauenbewegung erzwungen hat, wurde Ellen Johnson Sirleaf, die ebenfalls in der Organisation aktiv war, 2006 zum ersten gewählten weibliche Staatsoberhaupt in Afrika. Johnson Sirleaf hat 2011 mit Ihnen gemeinsam den Friedensnobelpreis erhalten und wurde in dem Jahr auch wiedergewählt. Macht es einen Unterschied, dass eine Frau Präsidentin ist?

Ich glaube, es macht einen großen Unterschied. Zum einen ist es wichtig für viele Frauen, eine Frau in so einer mächtigen Position zu sehen. Zum anderen hat ihre Wahl die Arbeit von Frauen in ganz Afrika aufgewertet. Im täglichen Leben merkt man das natürlich nicht: Die Politik wird noch immer von Männern dominiert, und eine weibliche Staatschefin alleine kann die Uhren nicht umstellen. Hier muss noch viel geschehen.

Wie viele Frauen wurden in Liberia Opfer von sexueller Gewalt?

Die Statistiken gehen auseinander: Manche sagen 40, manche sagen 60 Prozent.

Einer der ersten Höhepunkte Ihrer Frauenbewegung war, wie Sie dem Despoten Charles Taylor gegenübergetreten sind und als Sprecherin von hunderten Frauen Frieden verlangt haben. Das wurde gefilmt, die Szene in dem Dokumentarfilm "Pray the Devil Back to Hell" flößt irrsinnigen Respekt ein: Charles Taylor war legendär unberechenbar, folterte und mordete aus dem geringsten Anlass heraus. Wie haben Sie den Mut zusammengenommen, sich so zu exponieren? Gibt es heute noch etwas, vor dem Sie Angst haben?

Angst ist etwas, das einen lange begleitet hat. Man kann nur Angst haben, wenn man etwas zu verlieren hat. Menschen in hoffnungslosen Situationen haben vor fast nichts mehr Angst. Zu jener Zeit hatte ich um mich keine Angst mehr. Und die wenige Restangst, die ich hatte, die durfte mich nicht von meinem Ziel abhalten, denn mein Ziel, Frieden zu erlangen, für meine Kinder, war größer als meine persönliche Angst. Es wird immer Angst geben. Aber ich werde dieser Angst niemals erlauben, mich zu stoppen. Wenn Sie mich fragen, wovor ich heute noch Angst habe, kann ich es gar nicht sagen. Ich weiß nur, dass es inzwischen mein persönlicher Ehrgeiz ist, mich für Frauenrechte einzusetzen, wo auch immer ich sie mit den Füßen getreten sehe. Und dann damit mutig umzugehen. Keine Angst haben.

Glauben Sie, eine von Frauen gemachte Friedensbewegung, wie Ihre in Liberia, hätte auch einen Erfolg in Nigeria, wo Boko Haram Dörfer zerstört und Schulmädchen verschleppt?

Unsere Bewegung ist in gewisser Weise bereits in diesen Orten angekommen. Nur wissen das die Wenigsten. Unsere eigentliche Bewegung hat in einem anderen Kontext begonnen. Die Menschen müssen diesen Grundgedanken nun für sich adaptieren. Man kann unsere Bewegung nicht einfach von Liberia nach Nigeria pflanzen. Aber in vielen Communitys in Nigeria, die vom Krieg betroffen sind, gibt es ganz normale Frauen, die heutzutage mutige Arbeit verrichten. Genau wie unsere Arbeit es damals war. Aber von jenen Frauen aus Nigeria hört man nichts.

In Westeuropa gibt es derzeit eine große Diskussion über die ankommenden Migranten, die oft junge Männer sind. Zum Teil, weil wir nicht verstehen, wie man mit der sexualisierten Gewalt oder männlichen Aggression umgehen soll. Aber es wird auch die Frage aufgeworfen, wer denn die daheimgebliebenen Frauen verteidigt, wenn alle auf der Flucht sind.

Wenn man von den Konflikten in Syrien, im Irak, im Jemen spricht, die man mit der Situation Liberias vergleichen kann, darf man eines nicht vergessen: Die meisten Männer, also mindestens 80 Prozent, sind deshalb auf der Flucht, weil sie sich geweigert haben, einer Terrormiliz beizutreten, Unschuldige zu töten, und dadurch selbst zur Beute wurden. Und weil sie nicht Teil des Blutbads werden wollen, gehen sie ins Exil. Und wenn die Frauen oder Mütter das Opfer bringen können, ihre Männer und Söhne wegzuschicken, ist das immer mit der Hoffnung verbunden, dass er vielleicht überleben wird - und die Männer vielleicht irgendwann nachholen.

Zur Person
Leymha Gbowee
1972 in Monrovia geboren, gründete die Organisation Women of Liberia Mass Action for Peace. 2011 erhielt die Bürgerrechtlerin gemeinsam mit ihrer Landsfrau Ellen Johnson Sirleaf und der Jemenitin Tawakkul Karman für ihren gewaltfreien Kampf für die Frauenrechte den Friedensnobelpreis. In Graz nahm sie an der Women for Peace Konferenz zum Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen in Krisengebieten teil.