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Friedensforschung in Graz für den Kaukasus

Von Hans Haider

Wissen

Von der Kriegsfolgenforschung zur Konfliktvermeidung. | Grazer erforschen den Armenien-Aserbaidschan-Krieg. | Das Grazer Türschild ist soeben 15 Jahre alt geworden: Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung (BIK). Mit der Klärung von Schicksalen österreichischer Kriegsgefangener, Vermisster und Verschleppte in der ehemaligen Sowjetunion hat das BIK auch außerhalb der Scientific Community Ansehen und Dank gewinnen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 15 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Doch im neusten Großprojekt wechseln die Historiker um den Gründer und Leiter Stefan Karner aus der Vergangenheit in die Zukunft. Im Südkaukasus werden die Folgen des Kriegs zwischen Aserbaidschan und Armenien um Berg-Karabach erkundet. Man bohrt nach den ethnischen, kulturellen, wirtschaftlichen Ursachen dieses Konflikts. Beide Streitparteien sind Mitglieder des Europarats. Koordinator Peter Fritz fragt: "Kann ein Konsens nach Denkweisen westlicher Demokratien wachsen oder rücken die Gesellschaften weiter auseinander?"

Vertreter in Moskauer Historiker-Kommission

In den nächsten Jahren werden "Grundlagen für die sicherheitspolitische Beurteilung" erarbeitet, die sich, so Karner, von den bisherigen russischen, amerikanischen und islamistischen Sichtweisen unterscheiden werden. Auftraggeber ist das Wiener Verteidigungsministerium.

Die Forschungsfelder des BIK verbreiterten sich seit 15 Jahren laufend zu den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen von Kriegen und Systemänderungen: Grenzverschiebungen, Nationalitätenkonflikte, Genozid, Zwangsarbeit, Vertreibung, Umstellung von Kriegs- zu Zivilproduktion, Energie- und Rohstoffverteilung, Friedensprozesse.

Das Engagement in Russland trug Früchte: Karner, seine Stellvertreterin Barbara Stelzl-Marx und Peter Ruggenthaler wurden in die österreichisch-russische Historikerkommission berufen, die am 12. Dezember 2008 in Moskau gegründet wurde. Derzeit erfasst Peter Sixl im BIK die 60.000 Soldatengräber der Sowjetarmee in Österreich. Das westlichste findet sich in Feldkirch. Am Massengrab der letzten österreichischen Stalin-Opfer im Friedhof des Moskauer Donskoeklosters enthüllte die damalige Außenministerin Ursula Plassnik im September 2008 einen Gedenkstein für jene 108 Männer und Frauen aus Österreich, die in den letzten Jahren der Stalin-Herrschaft verurteilt, nach Moskau verschleppt und dort hingerichtet worden waren. Nahezu alle sind heute von den russischen Organen rehabilitiert.

Das 15-köpfige BIK-Team ist jung: zwischen 24 und 38 Jahren. Eine Mitarbeiterin in Wien ist bereits habilitiert: Ela Hornung; eine zweite, Barbara Stelzl-Marx, wird ihre Habil-Schrift bald einreichen. Rund vierzig Bücher füllen die Liste der BIK-Publikationen.

90 Prozent des Institutsbudgets, so Karner, kommen seit der Gründung des Instituts aus Drittmitteln. Firmen wie die OMV, die deutsche Henkel-Stiftung, Roto-Frank, der Zukunftsfonds, die Nationalbank, das Wissenschaftsministerium, die Stadt Wien, das Verteidigungsministerium, das Schwarze Kreuz, der steirische Landeshauptmann Franz Voves oder der Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl unterstützen die Forschungen.

Österreich-Ungarn als Besatzungsmacht

Kaum beachtet war bisher die Rolle Österreich-Ungarns als Besatzungsmacht. 1918, nach der Russischen Revolution und dem Frieden von Brest-Litowsk durfte die Ukraine okkupiert werden. Zum 50-Jahr-Jubiläum des Staatsvertrags 2005 verö ffentlichte das BIK gemeinsam mit Kollegen der Russischen Akademie der Wissenschaften eine Dokumentation über "Die Rote Armee in Österreich".

40 Jahre nach der Intervention des Warschauer Paktes in der CSSR im August 1968 folgte die Edition "Der Prager Frühling", in der erstmals die Protokolle der Sitzungen der sowjetischen Führung veröffentlicht wurden. In einem Buch über "Stalins großen Bluff" (von Peter Ruggenthaler) wird nachgewiesen, dass Moskau 1952 sein Angebot nicht ernst gemeint hatte, Deutschland wiederzuvereinen und zu neutralisieren; es war ein Liebesdienst für die Propaganda der SED-Genossen. Das BIK erforscht erstmals die Flucht österreichischer Juden über das im Hitler-Stalin-Pakt geteilte Lettland.

Zum 50-Jahr-Jubiläum des Wiener Treffens Kennedy-Chruschtschow 2011 wird die Veröffentlichung von bisher geheimen Dokumenten aus Moskau sowie eine Tagung vorbereitet.

Involviert in viele Ausstellungen

Doch das Feld ist weiter gesteckt: Mit Unterstützung des Wissenschafts- und des Außenministeriums, der Stadt Wien und des Landes Niederösterreich wird das BIK die Rolle Wiens und Österreichs auch als Stätte des Dialoges für die internationalen Politik aufarbeiten. Projektpartner sind wie bisher bei den großen Projekten die Institute des breiten, internationalen Netzwerkes des BIK: mehr als 30 Einrichtungen in Europa, den USA und Russland mit über 80 Forschern, darunter Institute in Harvard (Mark Kramer) und New Orleans (Günther Bischof), das Institut für Zeitgeschichte in München-Berlin (Horst Möller), die Russische Akademie der Wissenschaften (Alexander Tschubarjan), die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin (Anne Kaminski) und die Freie Universität Berlin (Manfred Wilke).

Für das Land Niederösterreich leitete Karner 2005 auf der Schallaburg die Staatsvertrags-Ausstellung "Österreich ist frei!". 220.000 Besucher bedeuteten einen Rekord. Heuer wird am 18. April, zur Halbzeit der tschechischen EU-Präsidentschaft, in Horn, Raabs und Telc die grenzüberschreitende NÖ Landesausstellung "Österreich-Tschechien" eröffnet. Karner ist österreichischer Chefkurator, Peter Laussegger macht im BIK die wissenschaftliche Koordination. Konfliktthemen wie die Benes-Dekrete und das AKW Temelin werden aus wechselseitiger Sicht beleuchtet. Und mit dem Generaldirektor des Staatsarchivs, Lorenz Mikoletzky, gestaltete Karner die bis

11. April im Parlament laufende Ausstellung "Österreich 1918-2008". Fast 1000 Besucher werden jeden Tag gezählt.