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Friedensvisionen in Zeiten des Krieges

Von Ursula Werther-Pietsch

Gastkommentare
Ursula Werther-Pietsch ist Privatdozentin für Internationales Recht und Internationale Beziehungen an der Karl-Franzens-Universität Graz sowie Lehrbeauftragte an der Bundeswehr-Universität München. Sie ist Mitherausgeberin des "Defence Horizon Journal Special Edition" und Mitglied der Wissenschaftskommission beim österreichischen Bundesministerium für Landesverteidigung. Ihr Buch "Envisioning Peace. Neue Schule des Multilateralismus" wird im Herbst bei Facultas erscheinen. Sie ist Unterzeichnerin des "Offenen Briefs für eine neue Sicherheitspolitik". Der vorliegende Text stellt ihre persönliche Meinung dar.
© privat

Eine neue Schule des Multilateralismus oder was die Wiener Werkstätte und Sicherheitspolitik gemeinsam haben.


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Wiener Werkstätte - wer dabei an darstellende Kunst denkt, an die akzentsetzende Architektur und Alltagskunst um die Jahrhundertwende, liegt nur zum Teil richtig. Übertragen auf Geopolitik bedeutet diese Denkrichtung, Alltägliches, den "kleinen Mann" von Ödön von Horváth und Bertolt Brecht, ein wenig zum Maßstab der Dinge zu machen. Es geht um Weltpolitik mit einem pragmatischen Auge, Geostrategie und Individualität. Dieser Herausforderung gehen wir im neuen Buch "Envisioning Peace in a time of War. Neue Schule des Multilateralismus" nach, das nun rechtzeitig zum Europäischen Forum Alpbach herauskommt.

"Tonarten des Friedens" - das Motto der Festrede Illja Trojanows bei den Salzburger Festspielen, soll die Intention veranschaulichen: Wer systematisch Szenarien des Friedens vordenkt, ist - militärisch ausgedrückt - gegen den einzigen "Ton des Krieges" gewappnet. Um den Komplexitäten von heute zu begegnen, brauchen wir ein flexibles, kommunizierendes System internationaler Regelungen, das variierende Allianzen zulässt und Interessenkämpfe eindämmt. Aufbauend auf einer scharfen Analyse der gegebenen Situation entwerfen im neuen Buch zehn Autorinnen und Autoren ein Gegenstück zur "Welt von heute". Die Gründung einer neuen Schule des Multilateralismus, die realistische und idealistische Außen- und Sicherheitspolitik vereint, wird zur Diskussion gestellt.

Geopolitik nicht als Leitmotiv sehen

Internationale Beziehungen sollen nichts anderes als den täglichen Bedürfnissen im politischen Leben dienen; ihr innenpolitischer Bezug ist daher evident. Allerdings nicht aus der üblichen Perspektive, nämlich dem "Lippenablesen", um "politisch zu punkten" unter dem Deckmäntelchen des Bürgers als Souverän. Nein, umgekehrt soll Geopolitik, also das Spiel von Machtinteressen auf globaler Ebene, als integraler Teil von menschlicher Sicherheit gesehen werden, als eine gewichtige Dimension, nicht aber als Leitmotiv oder gar übergeordnetes Axiom.

Es bedarf dringend einer neuen Theoriebildung für globalen Frieden in einem Zeithorizont von zwei bis drei Jahren. Die mühsam erarbeiteten Strukturen völkerrechtlichen Geschehens, die nach dem Zweiten Weltkrieg entworfen wurden und große Dynamik aufgezeigt haben, sind nicht völlig obsolet. Die Zeitenwende bringt neue Hürden, die uns jedoch nicht dazu veranlassen sollten, alle internationalen Grundsätze und Prinzipien wie Vertragstreue, Antidiskriminierung oder Effektivität aufzugeben, bis hin zur Neutralität jenseits ihres historischen Befunds oder der österreichischen Mehrheitsmeinung.

Ob diese eine Fiktion ist oder mit neuem Leben erfüllt werden kann, ist noch lange nicht ausdiskutiert. Ebenso wie die Gretchenfrage "Wie hältst du’s mit der Nato?" nicht in einem Schwarz-Weiß-Zeichnen zwischen Verweigerung und Beitritt liegen kann. In dieses Dunkel Licht zu bringen, wird - so hoffe ich als Mitunterzeichnerin - Aufgabe einer engagierten Gruppe von Persönlichkeiten sein, die in einem offenen Brief an den Bundespräsidenten eine offene Diskussion der sicherheitspolitischen Optionen Österreichs gefordert haben. Dieser blieb im Übrigen noch unbeantwortet.

Eigener Prozess zur Absicherung des Weltfriedens

Ein vergleichbarer gemeinsamer Nachdenkprozess, den ich mit einer Reihe von Persönlichkeiten aus Politikwissenschaft, österreichischer und EU-Diplomatie, Friedens- und Sicherheitsforschung im Sommer 2021 gestartet habe, führte zur Idee einer Wiener Werkstätte für angewandten Multilateralismus. Es lohnt sich, gerade angesichts der Umstürze durch den Krieg in der Ukraine darüber nachzudenken, wie "kooperative Sicherheit" argumentiert und gelebt werden kann: Kein naiver Menschenrechtsaktivismus, keine abstrakten Schönwetterabkommen, die die wahren Probleme unter den Tisch kehren, mehr Fokus, weniger Zerfledderung und ausweichendes Ebenenspringen.

Gefragt sind geschickte innovative Kooperation und ein neuer Konsensus zur Absicherung des Weltfriedens. Es steht weiters außer Frage, dass nur die oftmals in Misskredit gekommenen Vereinten Nationen, immerhin das Friedenswerk nach dem Zweiten Weltkrieg, den Anstoß dazu geben können. Eventuell auf Vorschlag der EU als Vermittler, aber natürlich nicht im Format des UNO-Sicherheitsrats, sondern in einem eigenen Prozess, der höchtstrangige Player aus Existenzgründen zu einem exklusiven Gespräch zusammenführt.

Unstrittig sind wir in eine "Kalter Krieg 2.0"-ähnliche Ära geraten, die die alten Sicherheitskonzepte und Führerschaften nicht mehr fit für die Zukunft aussehen lässt. Diagnose und Erfahrung rufen nach einer "Verjüngung" nicht nur des praktischen, sondern auch des theoretischen Rahmens. Der Abwärtstrend in demokratischer Regierungsführung, östliche Modernität und systemischer Wett-kampf, die Dominanz von Geoökonomie und Abschreckung - all das gilt es zu durchbrechen. Wir schlagen dazu eine netzwerkbasierte Weltordnung, ein mehrstufiges Modell kooperativer Sicherheit und schließlich die deklaratorische Erneuerung des Weltfriedenskonsensus als gemeinsame Vision vor.

Internationale Beziehungen zeitgemäß ausgestalten

Wir haben unheimlich viel im Peacebuilding gelernt, wie Bea Austin im Buch schreibt, sehen nach Meinung Velina Tchakarovas die "Bifurkation" der Welt mit einem deutlichen Zwiespalt zwischen dem Westen und China beziehungsweise Russland, erkennen Johannes Varwick zufolge gleichzeitig das "Ende der Gewissheiten", was den transatlantischen Kurs betrifft. Das Gebäude des globalen Friedens ist bedroht von konkreten Erosionserscheinungen, so Michael Reiterer, und die europäische Sicherheitsordnung möglicherweise an einem "point of no return" angelangt, warnt Fred Tanner. Können wir bereits eine Antwort auf diese "Age of Unpeace", wie Mark Leonard die Schattenseiten von Konnektivität treffend nennt, finden?

Raquel Jorge Ricart beleuchtet dazu den "EU Global Gateway", Thomas Greminger und Juliette Wiegmann gehen dem Konzept menschlicher Sicherheit nach. Karina Kariks und mein Vorschlag ist eine strategische Position jenseits der Grenzen von menschheitszentriertem Idealismus und machtbasiertem Realismus, die dem sich herausbildenden neuen globalen Gleichgewicht entspricht - und gerade deswegen Kriege verhindern kann. Wir suchen, um mit Wolfgang Petritsch zu sprechen, zwischen Blöcken und Polen nach einer neuen friedensbildenden "Grand Strategy", einem Friedensparadigma, das von Resilienz und Gerechtigkeit geprägt ist (aus dem Vorwort). Unser Tenor, ganz den von Hans Kelsen inspirierten gelebten Multilateralismus vorwegnehmend (Robert Schütt in der "Wiener Zeitung" vom 2. August): Die realistische Haltung der Geopolitik in eine normativ getriebene humanistische Denkungsweise zu integrieren, ist die Herausforderung einer innovativen, zeitgemäßen Ausgestaltung der internationalen Beziehungen.

Bleibt natürlich offen, wo der Angelpunkt einer derartigen Schule des Multilteralismus liegen soll - eignet sich dazu die Lehr- und Schöpfungskraft der Diplomatischen Akademie oder sollten studentische Vordenkerinnen und Vordenker in Graz hier eine führende Rolle übernehmen? Der Abbruch diplomatischer Beziehungen wie vom russischen Präsidenten Wladimir Putin am 13. August vorgeschlagen, just am Vorabend des Jahrestags der Atlantik Charta 1941 als Zeugnis der US-britischen ex-ante-Bemühungen um eine Nachkriegsordnung, ist jedenfalls das Gegenteil von dem, was die Welt braucht. Treten wir dagegen auf; wir werden andere Lösungen als einen Weltkrieg finden.