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Friederike Mayröcker und Bodo Hell

Von Christine Dobretsberger

Reflexionen

Friederike Mayröcker und Bodo Hell sprechen über das Werk der Dichterin, den Stellenwert der Poesie, über ihre Freundschaft - und die gemeinsamen Erinnerungen an Ernst Jandl.


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Wiener Zeitung: Frau Mayröcker, in Ihrem neuesten Lyrikband, "Scardanelli", finden sich auffallend viele persönliche Widmungen. Drei der Gedichte sind beispielsweise Bodo Hell zugedacht. Wissen Sie schon im Voraus, dass Sie ein Gedicht einem bestimmten Menschen widmen möchten, oder ergibt sich das erst im Prozess des Schreibens? Friederike Mayröcker: Das ist unterschiedlich. Aber meistens weiß ich es schon im Vorhinein.

Bodo Hell: Das Schöne ist, dass man sich einerseits wahnsinnig freut, wenn man ein Gedicht liest, das einem zugedacht wurde. Andererseits hat man oft das Gefühl, Friederike entwirft eine andere Person, an die man sich annähern könnte, bzw. eine Situation, die man halluziniert haben könnte.

Mayröcker: Halluzination spielt natürlich eine große Rolle. Der Zustand während des Schreibens ist an und für sich ein ganz außerordentlicher.

In einem früheren Interview meinten Sie, dass Ihre Texte nicht autobiografisch, sondern authentisch seien. Mayröcker: Das ist ein zweischneidiges Schwert. In irgendeiner Form ist natürlich immer ein bisschen Autobiografie vorhanden, die man allerdings nicht gleich merkt, weil sie oft verhüllt wird.

Hell: Viele derer, denen du Gedichte gewidmet hast, erkennen sich in deinen Zuschreibungen bisweilen nicht wieder. Und genau das finde ich das Spannende. Es sind keinesfalls Übertragungen im realen Sinn, sondern die Wahrnehmung ist immer in einer Weise verschoben. Manchmal habe ich fast den Eindruck, du gibst den Personen in deinem Werk Namenshülsen. Ich bin gar nicht sicher, ob diese Gedichte wirklich uns gewidmet sind.

Mayröcker: Doch, es hat schon immer etwas mit diesen ganz speziellen Menschen zu tun. Ich würde sagen, es ist eine Mischung aus Fantasie und Wirklichkeit.

Hell: Meiner Leseerfahrung nach erfährt man über ein Gedicht nicht mehr, wenn man darüber informiert ist, welche Konstellationen - autobiografischer oder biografischer Natur - gerade bei dir ablaufen. Eine Art Schlüssellochliteratur wird man in deinem Werk nicht finden.

Mayröcker: Das würde ich auch nie wollen. Ich könnte übrigens auch nie Memoiren schreiben.

"Halluzination spielt eine große Rolle. Der Zustand während des Schreibens ist ein ganz außerordentlicher": Friederike Mayröcker und Bodo Hell im Gespräch. Foto: Dobretsberger

Hell: Die Menschen, die in deinem Werk vorkommen - ich nenne sie jetzt einmal Substitutionsfiguren -, ermöglichen es, dass jeder, der es liest, sich selbst angesprochen fühlt. Diese verschiedenen Grade der Nähe zu den Realpersonen, dieses abschattierte System von Figuren und Namenskürzeln sind meiner Meinung nach ein genialer Zug, den Leser bei der Stange zu halten.

Was war für Sie aber nun konkret dafür ausschlaggebend, diese drei Gedichte in "Scardanelli" Bodo Hell zu widmen? Mayröcker: Da müsste ich erst nachschauen - ich kann keines meiner Gedichte auswendig.

Hell: Ich denke, das hängt damit zusammen, dass man deine Gedichte jedes Mal neu liest. Deine Texte sperren sich gegen das Auswendiglernen. Obwohl sie aus dem Gedanken- und Assoziationszusammenhang kommen, beinhalten sie überraschenden Wendungen und Sprünge, die sich dem Memorieren widersetzen. Gleichzeitig jedoch hätte man sie gerne parat. Was deshalb der Fall ist, weil du Bilder entwirfst, die man als Leser nicht vergisst.

Denken Sie da an ein konkretes Beispiel? Hell: Zum Beispiel an den Text mit den Schwalben, die mit aufgesperrten Schnäbeln so tief fliegen, dass ihre roten Zungen zum Vorschein kommen. Seither warte ich immer darauf, dass ich das irgendwo sehe.

Mayröcker: Ja, diese Szene ist eine Kindheitserinnerung aus Deinzendorf, die mich bis heute fasziniert. Nach dem Regen flogen die Schwalben tatsächlich auf Augenhöhe.

Hell: Vielleicht noch ein Wort zu den mir gewidmeten Gedichten. Friederike schenkte mir vor einiger Zeit zwei Rosenkugeln; eine rote und eine grüne. Diese Rosenkugeln sind nun in meinem Garten im Kamptal, von dem im Gedicht "oh Phantasus, mit Konrade, zerbrochenen Blüthen" die Rede ist. Friederike war noch nie vor Ort, um sie zu sehen. Ich habe den Eindruck, dass dieses Bild der Rosenkugeln umso mächtiger ist, je weniger du sie gesehen hast.

Mayröcker: Rosenkugeln sind auch eine ganz starke Erinnerung an Deinzendorf. Wir hatten zwar keine, aber in den Nachbarsgärten waren welche. Das hat mich ungemein beeindruckt.

Hell: Weil man sich darin spiegelt?

Mayröcker: Man spiegelt sich - und sie leuchten, sie haben diesen ganz eigenartigen Glanz.

Dieses Gedicht ist also auch eine Mischung aus Fantasie und Wirklichkeit? Mayröcker: Ja, die Rosenkugeln und die Beschreibung von Bodo Hells Gestik der Hände sind Wirklichkeit, alles andere ist bislang leider nur in der Fantasie möglich gewesen.

Hell: In diesem Zusammenhang gibt es noch eine Parallele mit der Alm, wo du und Ernst Jandl mich immer besuchen wolltet. Es hat sich leider nie ergeben, aber immer war der Gedanke da, mit dem Hubschrauber hinauf und über die Alm hinweg zu fliegen. Ähnlich wie in diesem Gedicht: Man hat das Gefühl, du warst schon in diesem Garten, ohne dass du je dort gewesen bist.

Wie lange reicht Ihre Freundschaft mittlerweile zurück? Mayröcker: Bis ins Jahr 1975.

Kennen Sie einander über die Literatur? Hell: Ja, wenn ich das sagen darf: Friederike hat immer schon mehr gewagt, als wir sogar als Junge gewagt hätten. Auf verschiedenen Ebenen. Auch was die Lebensform zu zweit betrifft. Du und Ernst Jandl - das war vergleichbar mit Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre. Nicht was den Grad der Öffentlichkeit der Personen betrifft, sondern als vorbildliches Paar.

Mit Mayröcker und ihren Texten eng vertraut: Bodo Hell. Foto: Marko Lipus

Mayröcker: Vorbildlich würde ich gar nicht sagen.

Hell: Jedenfalls war es eine Gestaltung der Lebensform, die damals eine große Ausnahme darstellte. Beide arbeiten intensiv, sind schriftstellerisch tätig, und gleichzeitig dieses gegenseitige Einräumen von Freiheit. Aber speziell zu deiner Literatur: Für mich ist immer so überraschend, dass jedes deiner neuen Bücher tatsächlich etwas Neues bringt. Nicht nur bezogen auf den Inhalt, sondern wie du Formen wagst. Das neueste Manuskript, an dem du gerade arbeitest und von dem ich bereits einige Seiten lesen durfte, besteht beispielsweise aus Fußnoten zu einem Buch, das in Wirklichkeit nicht geschrieben ist. So etwas muss einem erst einmal einfallen! Wie gesagt: Eine Kühnheit, die immer wieder überrascht.

Sie selbst bezeichnen "je ein umwölkter gipfel" als Schlüsselwerk. Mayröcker: Es ist deshalb ein wichtiges Buch, weil ich mich mit diesem Werk vom puren experimentellen Arbeiten abgewandt habe. Ich dachte mir, ich muss jetzt etwas anderes machen. Vorab wusste ich nur den Titel des Buches, den ich übrigens aus der "Zeit" gestohlen habe. Damals war gerade der Amerika-Russland-Gipfel und die "Zeit" titelte mit der Überschrift: "Ein umwölkter Gipfel". Ich fügte nur das "je" hinzu und entwarf zwei sprechende Personen. Später in "Heiligenanstalt" bin ich allerdings wieder zum Experimentellen zurückgekehrt.

Hell: Weil du "Heiligenanstalt", also deine Musikerbiografien, ansprichst: Für mich ist faszinierend, wie du diese Biografien aus den Texten, die du über diese Musiker gelesen hast, in einer Weise herausziehst, dass zum Schluss eine Art innere Biografie übrig bleibt. Sowohl bei Chopin, Bruckner, Schumann oder Schubert hast du für jede dieser biografischen Annäherungen eine eigene literarische Form gefunden. Die Schubertgeschichte besteht beispielsweise nur aus Zettelchen. Das finde ich großartig, weil du auf diese Weise meiner Ansicht nach ein besseres Bild einer Annäherung an ein mögliches Leben erzeugst, als wenn man "klassische" Biografien liest. Biografien erwecken oft den Eindruck, als wäre alles erklärbar. Du lässt vieles offen.

Mayröcker: Ich habe zwei Schubert-Biografien geschrieben. Zu jener in "Heiligenanstalt" hat mich Otto Breicha verführt. Er brachte mir einen großen Stoß Bücher und Schallplatten, wobei ich generell sagen muss, dass mich Otto Breicha für vieles geöffnet und mir vieles nahe gebracht hat. Nicht nur was Musik betrifft, vor allem auch in Sachen Bildender Kunst. Er war ja Kunsthistoriker und viele Jahre Direktor des Salzburger Rupertinums.

Hell: Zudem brachte er die Zeitschrift "protokolle" heraus, wo er die wildesten Dinge veröffentlichte. Zu mir sagte er immer: "Schreiben Sie mir wieder was Schönes!"

Mayröcker: Das sagte er zu mir auch, ebenso wie: "Du bist mein Maskottchen. Wenn kein Text von dir drinnen ist, dann stimmt das Heft nicht."

Weil Sie zuvor die Bildende Kunst angesprochen haben: Steht sie als Inspirationsquelle noch über der Musik? Mayröcker: Auf jeden Fall. Speziell Maria Lassnig gefällt mir ausgesprochen gut. Mit ihren Body-Awareness-Bildern ist sie eine Art Vorbild für mich.

Hell: Was selten gesagt wird und was dich vielleicht mit Lassnig verbindet, ist das Interesse für Körperfunktionen.

Mayröcker: Ja, die interessieren mich sehr.

Hell: Du verstehst es mit der größten Feinheit, mit delikatester Wörtlichkeit die unglaublichsten Dinge zu beschreiben. Ganz gleich, ob es sich um sperrige Themen wie Inkontinenz oder Fäkalien handelt - bei dir erwecken diese Texte keinen technischen oder medizinischen Eindruck, sondern alles ist so fein, fast liebevoll.

Mayröcker: "Wäsche, selig gemacht" heißt dieser Text...

Hell: Eine weitere Parallele zu Maria Lassnig ist natürlich deine Tier-Morphologie - wenn du sozusagen in Tiergestalten auftauchst. Mich hat deine Aussage beeindruckt, dass es vorkommen kann, dass du auf der Straße einen Hund siehst und daraufhin die Welt mit seinen Augen wahrnehmen kannst. Eine ähnliche Situation hast du einmal beschrieben, als du plötzlich mit den Augen deines Vaters sehen konntest.

Mayröcker: Das habe ich wirklich erlebt. Ich hatte mich so in meinen Vater hineinversetzt, dass ich plötzlich das Gefühl hatte, ich schaue jetzt genau mit den Augen meines Vaters. Das ist nicht oft vorgekommen. Aber mit dem Hund war das damals genauso.

Hell: Das ist vielleicht eine Brücke zu den zuvor angesprochenen Substitutionsfiguren und Namen: Du gibst auf ganz spezielle Weise Anleitungen zur Wahrnehmungstechnik. Das geht ganz schleichend vor sich. Auch wenn sich die angesprochenen Personen mitunter in den Texten nicht wiederfinden, ist ihnen gleichzeitig eine Lebensmöglichkeit gegeben. Nicht nur in der Wahrnehmung beispielsweise durch ein Hunde- oder Insektenauge, sondern die Literatur macht etwas mit dem Leben, das gar nicht über die Person geht. Du ermöglichst deinen Lesern Wahrnehmungsbereiche, die man ansonsten bestenfalls nur erahnt.

Sind diese von Bodo Hell angesprochenen subtilen Zwischentöne der Grund, weshalb Sie Ihre Texte immer selber lesen? Mayröcker: Ich lese meine Texte deshalb immer selbst, weil die meisten Schauspieler nur sich selbst sprechen. Ich halte das nicht aus.

Hell: Man will ihnen keineswegs eine böse Absicht unterstellen, aber wenn Schauspieler mit Texten arbeiten, hat man sehr oft das Gefühl, als müssten sie sich diese Texte aneignen. Sie können nicht auf den Text horchen, nicht abwarten, was er macht.

Mayröcker: Der einzige Schauspieler, der dies mit meinen Texten konnte, war Ulrich Wildgruber. Wie er mein Hörspiel "Dein Wort ist meines Fußes Leuchte oder Lied der Trennung" sprach, war sehr beeindruckend.

Hell: Wildgruber las den Text, als würde er ihm in der Sekunde eingegeben. Und zwar im rasenden Tempo - dann stoppte er, ganz so, als horchte er, was er soeben gesagt hatte.

Mayröcker: Das war faszinierend.

Wenn man Ihre Prosa-Werke liest, fragt man sich oft, wie Sie letztlich zu einem Ende finden können? Mayröcker: Wenn man keine Kraft mehr hat, ist es aus.

Kommt Ihnen dann nicht der Gedanke an eine Fortsetzung? Mayröcker: Fortsetzungen habe ich nie gemacht. Wenn ein Buch aus ist, ist es aus. Dann war ich, wie gesagt, mit meiner Kraft am Ende. Danach folgt meistens eine Phase mit Gedichten.

Im Anschluss an die Buchpräsentation von "Scardanelli" sprachen Sie über Ihre intensive Hinwendung zum Leben, und dabei fiel der Satz "Ich hasse den Tod". Mayröcker: Ja, den hasse ich. Ich sehe nicht ein, dass ich abtreten muss, weil ich noch einiges vorhabe. Canetti war ja auch gegen den Tod. Ich finde es ein Abschneiden eines Fadens, der am liebsten noch sehr lange weiter ginge. Dieser Faden wird einfach abgeschnitten, und man geht in ein unbekanntes Terrain. Das finde ich schlimm.

Ihr literarisches Schaffen reicht nun bereits mehr als 60 Jahre zurück. In welche Richtung hat sich Ihrem Empfinden nach in dieser Zeit der Stellenwert von Dichtung verändert? Mayröcker: Ich denke schon, dass das Interesse steigt. Vor allem bei jüngeren Menschen. Aber auch bei älteren Frauen. Das merke ich oft bei meinen Lesungen - dort sind sehr viele weibliche Hörer und Leser.

Hell: Du hast eine sehr große Fangemeinde. Zudem habe ich den Eindruck, dass du hier Menschen gewonnen hast - und zwar nicht im Sinne von für dich gewonnen, sondern der Text hat das vollbracht.

Wie ist das zu verstehen? Hell: Es geht über eine bestimmte Textgestalt, die einen im Herzen trifft. Das ist sehr verführerisch.

Zur PersonFriederike Mayröcker, geboren 1924 in Wien, war von 1946 bis 1969 Englischlehrerin an verschiedenen Wiener Hauptschulen. 1969 ließ sie sich als Lehrerin karenzieren und 1977 frühpensionieren. Ihr literarisches Schaffen begann sie als 15-Jährige (1939); 1946 veröffentlichte sie ihre ersten Arbeiten in der Zeitschrift "Plan".

Friederike Mayröcker gilt als eine der bedeutendsten zeitgenössischen österreichischen Lyrikerinnen. Erfolg hatte sie aber auch mit Hörspielen. Vier davon verfasste sie gemeinsam mit Ernst Jandl, mit dem sie von 1954 bis zu dessen Tod im Jahr 2000 zusammenlebte. Mayröckers Prosawerke werden der Kategorie "Autofiktion" zugerechnet. 2001 erhielt sie den Büchner-Preis. Für ihren jüngsten Gedichtband, "Scardanelli" (Suhrkamp, 2009), erhält Mayröcker am 27. Juni den Hermann-Lenz-Preis.

Bodo Hell, geboren 1943 in Salzburg, lebt in Wien und am Dachstein. Er studierte am Salzburger Mozarteum Orgel und in Wien Film und Fernsehen, Philosophie, Germanistik und Geschichte. Neben zahlreichen Prosaarbeiten verfasste er Texte zur bildenden Kunst, Fotos, Film, Musik, Ausstellungen, Almwirtschaft und Schrift im öffentlichen Raum. 2003 erhielt Hell den Preis der österreichischen Literaturhäuser.

Christine Dobretsberger, 1968 geboren, lebt und arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Wien.