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Friedrich Achleitner

Von Christine Dobretsberger

Reflexionen

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Wiener Zeitung:Herr Achleitner, vor kurzem gab es eine Neuauflage Ihres erstmals im Jahr 1973 publizierten "quadratromans". Ist das als eine Art Renaissance der Texte von Dichtern der legendären "wiener gruppe" zu verstehen?Friedrich Achleitner: Sagen wir so: In diesem Fall war es eher ein Zufall. Als ich im Rahmen einer Vernissage im Atrium der Österreichischen Beamtenversicherung Auszüge aus dem "quadratroman" las, entstand von Seiten der Generaldirektion spontan die Idee, dieses vergriffene Buch neu aufzulegen. Inhaltlich und optisch blieben die Texte ident.

Das heißt, jede Seite entspricht nach wie vor einer Art Grafik. Was die Frage aufwirft, ob dieser Textband Ihre beiden Professionen - Sprache und Architektur - zum Ausdruck bringt?

Mit Architektur würde ich den "quadratroman" nicht in Zusammenhang bringen. Höchstens indirekt. Die Idee dazu entstand 1972 in Berlin, als ich im Zuge eines einjährigen Stipendiums endlich wieder Zeit für Literatur fand. Gleichzeitig schrieb ich ein wenig für die Schweizer Zeitschrift "Bauen und Wohnen", von der ich einen Stapel von Umbruchpapier mitnahm. Auf diesen Bögen waren abgesetzte Quadrate gedruckt. Und mit der Zeit begann ich in diesen Quadraten - und drumherum - Texte zu notieren.

Das Quadrat ist sozusagen die Hauptfigur.

So ist es. Eben eine Art visuelle Poesie, die aber, wie gesagt, nichts mit Architektur zu tun hat.

Umgekehrt gefragt: Gibt es Ihrer Ansicht nach - im übertragenen Sinn - eine Sprache der Architektur?

Alles, was in irgendeiner Form lesbar ist, etwa auch Spuren, hat eine Analogie zur Sprache. Allerdings kann Architektur naturgemäß das nicht, was Sprache kann, nämlich Dingen präzise Bedeutungen verleihen. Die Elemente in der Architektur sind mehr vom Kontext abhängig. Bestes Beispiel dafür ist die griechische Säule, die gut 2000 Jahre symbolisch verwendet wurde - bis hin zur Revolutionsarchitektur, aber auch bis zum Nationalsozialismus oder Sozialistischen Realismus. In diesem Sinn ist Architektur weniger Sprache als nonverbale Mitteilung.

Architektur - verstanden als Zeichensetzung?

Genau. Zeichen sind immer lesbar und mit Bedeutungen beladen. Aber trotz dieser Abgrenzung zwischen Architektur und Sprache gibt es natürlich auch die sogenannte narrative Architektur. Bauten, etwa von Hundertwasser, sind überwiegend narrativ, also erzählend, gehen von der Architektur in Richtung Surrealismus. Aber das Hauptanliegen von Architektur ist keine sprachliche Mitteilung. Das ist klar.

In diesem Zusammenhang fällt mir ein Satz von Konrad Bayer ein: "gebt mir einen bogen papiers eine (neue) welt zu bauen".

Das war prinzipiell ein Zugang der "wiener gruppe" zur Sprache, weil wir der Meinung waren, dass Sprache Wirklichkeit nicht abbilden kann. Die Sprache erreicht die Wirklichkeit nicht. Wir waren aber der Ansicht, dass man mit Sprache eigene Wirklichkeiten erzeugen kann. Das heißt, dass Sprache per se zur Erzeugung von intermedialen Wirklichkeiten prädestiniert ist. In diesem Kontext spielt übrigens der Dialekt eine große Rolle, weil sich im Dialekt ganz andere Dinge vermitteln lassen als in der sogenannten konstruierten Hochsprache. Dasselbe gilt für Fachsprachen. Zwei Tischler können sich auf eine Weise unterhalten, die ihre Arbeitswirklichkeit punktgenau trifft. Aber das funktioniert eben nur, wenn zwei Menschen den gleichen Bildungsstand, die gleiche konkrete Nutzung von Sprache haben. Andernfalls versteht jeder Mensch etwas anderes, wenn es um abstrakte Dinge geht. Es ist beispielsweise sehr schwierig, mit jemandem über Japan zu sprechen, der noch nicht dort war. Bestimmte Informationen sind einfach nicht vermittelbar. Um wirklich zu wissen, wovon die Rede ist, muss man den ganzen Kontext eines Gegenstands kennen und erlebt haben.

Der "wiener gruppe" ging es somit weniger um das Experiment, sondern vielmehr um die Erzeugung einer neuen Wirklichkeit via Sprache?

Das war unsere Position, mit Sprache oder besser gesagt mit Sprachen Dichtung zu machen, etwas Neues zu kreieren, das selbst eine Art von Wirklichkeit ist. Speziell H. C. Artmann war ein Multi-Sprachmensch. Aus diesem Grund haben wir uns auch gegen den Begriff Experiment gewehrt, weil das im wissenschaftlichen Sinn die Bezeichnung für eine Versuchsanordnung mit unsicherem Ausgang ist. Hingegen: Wenn man mit Sprache experimentiert, weiß man ja, was man will und was letztlich herauskommen soll. Insofern ist "experimentelle Dichtung" ein missverständlicher Begriff.

Andererseits waren nicht zuletzt die Gemeinschaftsproduktionen ein Markenzeichen der "wiener gruppe", wobei vieler dieser Arbeiten auf Montagetechniken basierten. War da nicht bisweilen sehr wohl auch der Zufall im Spiel?

Doch, aber als experimentell kann man es dennoch nicht bezeichnen, weil jede Entscheidung für einen Satz eine bewusste Entscheidung war. Selbst wenn man wahllos ein Konversationslexikon aufschlug, um einzelne Sätze herauszuholen, musste eine Beziehung zum vorhergehenden Satz gegeben sein. Natürlich war in diesem Zusammenhang Wittengenstein für uns alle sehr wichtig, weil uns erstmals klar wurde, dass ein Wort an sich wenig Bedeutung besitzt. Jedes Wort verändert seine Botschaft oder Semantik in der konkreten Situation, in der es gesprochen oder geschrieben wird. Diese Erfahrung war für uns extrem spannend. Damit bekam das Schreiben einen starken handwerklichen Bezug.

Und es hat außerdem den Anschein, dass Humor eine wichtige Rolle spielte!*

Humor spielte eine große Rolle! Vor allem, was unsere Dialektgedichte anlangt. Ich persönlich habe meinen Innviertler Dialekt übrigens erst hier in Wien entdeckt. Und H. C. Artmann landete mit seinem Gedichtband "med ana schwoazzn dintn" einen großen Erfolg.

Überraschenderweise stand ja auch Heimito von Doderer der "wiener gruppe" sehr wohlwollend gegenüber.

Ich denke, das hatte sehr viel mit dem Einfluss von Dorothea Zeemann zu tun, die Doderer zu allen möglichen Veranstaltungen mitschleppte. Aber es stimmt: Heimito von Doderer schätzte speziell unsere Dialektgedichte und konnte sogar einige auswendig. Wenn er etwas getrunken hatte, liebte er es, diese in Wirtshäusern vorzutragen!

Und wie klappte das mit der Aussprache?

Beim Wiener Dialekt recht gut, im Gegensatz zu den Innviertler Mundartgedichten, die einiges erleiden mussten. Prinzipiell war unsere Beziehung so, dass wir uns gegenseitig ein wenig verunsicherten. Wir hatten Respekt vor dem großen Meister, dem universal gebildeten Historiker, der mitunter altgriechisch mit uns sprach, eine halbe Stunde Homer zitierte, wovon wir kein Wort verstanden.

Und er wusste wiederum bisweilen nicht so recht, wie er mit den Texten, die wir fabrizierten, umgehen sollte. Sehr hoch anzurechnen ist Doderer jedenfalls, dass er sich für unsere Arbeiten einsetzte und sogar seine wöchentliche Literaturseite im "Kurier" niederlegte, als ihm verboten wurde, eine Seite über die "wiener gruppe" zu machen.

War die allgemeine Ablehnung in den 50er Jahren tatsächlich so groß?

Auf jeden Fall. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung im Wiener Konzerthaus, die völlig missglückte. In der Reihe "Berühmte Stimmen" las Burgschauspieler Richard Eybner unsere Dialektgedichte aus "hosn rosn baa". Natürlich suchte er sich die harmloseren, eher surrealistischen Texte aus. Als wir an die Reihe kamen und die harten, deftigeren lasen, wurde das gesittete Publikum wild: Mir sind noch Rufe wie "Ab ins Gas!" in Erinnerung.

Auf der Bühne mit Umgangssprache konfrontiert zu werden, war damals wohl ein absolutes Novum?

Der Dialekt musste erst wieder aus den Klauen des Heimatkitsches gerissen werden. Und jeder von uns tat dies auf seine Weise. H. C. Artmann beispielsweise wohnte in Breitensee und schaute, wie man so sagt, den Ottakringern auf den Mund. Gerhard Rühm arbeitete wiederum sehr bewusst mit dem Kontrast zwischen dem gehobeneren, weichen Wiener Dialekt mit einer schwarzen, makabren Thematik. Aber vielleicht war es weniger der Dialekt an sich als die Art seines Gebrauchs, die ja bis zu reinen Lautgedichten ging. Es gab viele Tabus, mit denen die Sprache nicht in Berührung kommen durfte.

War das bewusste Provokation?

Nein, uns interessierte einfach dieses Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Konventionen und sprachlichen Tabus. Hier spielten die "literarischen cabarets" mit Oswald Wiener und Konrad Bayer eine zentrale Rolle.

Im Grunde waren die Auftritte der "wiener gruppe" in gewisser Weise doch eine Vorwegnahme der Happenings der bildenden Künstler, also der Aktionisten wie Nitsch, Brus oder Schwarzkogler.

Wobei es diesen Begriff damals noch nicht gab, der ist erst Anfang der 60er Jahre - von Amerika kommend - aufgetaucht. Aber es stimmt: Wir waren früher dran, und die damals jungen Maler waren auch unser Publikum. Generell muss man sich die 50er Jahre ganz anders vorstellen als die heutige Situation. Damals waren die Beziehungen zwischen Gruppen und Tendenzen offener. Wir waren alle zunächst noch Studenten an der Akademie, wobei Dichter, Maler, Architekten und Bildhauer permanent beisammen saßen und diskutierten.

Sozusagen kreuz und quer durch alle Kunstsparten?

Ja, Trennungen wie die Fantastischen Realisten oder die Maler der Galerie nächst St. Stephan gab es erst später. Ebenso wie die zielgerichteten Karrieren, wo klare Positionen bezogen und entsprechende Richtungskämpfe ausgetragen wurden. Das gab es in den 50er Jahren noch nicht.

Wenn Sie die heutige junge Kunstszene betrachten: Existiert Ihrem Empfinden nach überhaupt noch der Wunsch nach gegenseitigem Austausch?

Ich vermute schon. Es gibt sehr viele junge Gruppen. Nur herrscht heute eben eine total andere Situation. Es gibt Projektförderungen, Preise und weitaus größere Publikations- und Ausstellungschancen. Dennoch haben es junge Künstler bzw. Literaten genauso schwer wie wir früher, bemerkt zu werden.

Eben auf Grund dieser inflationären Situation?

Was früher verheimlicht wurde, weil es nicht publiziert wurde, verschwindet heute in der Masse des Publizierten oder Ausgestellten. Man verliert völlig den Überblick. Das gilt auch für die Architektur. Wenn ich nur an all die Monografien denke, die nahezu wöchentlich von Architektenbüros erscheinen . . .

...andererseits arbeiten Sie selbst ebenfalls seit mittlerweile mehr als 40 Jahren an Ihrem Opus Magnum, einem mehrbändigen "Führer zur Österreichischen Architektur im 20. Jahrhundert", der seit 1980 in Einzelbänden erscheint.

Ja, das ist ein umfangreiches, und auf Grund der regen Bautätigkeit wohl nie abzuschließendes Projekt. Meine ersten Recherchen erfolgten 1965, konkret in Bludenz, wo ich begann, Haus für Haus abzugehen. Das war jene Zeit, als der Architekturbegriff erweitert wurde und man sich erstmals mit Arbeitersiedlungen und Fabriksbauten beschäftigte. Gerade in Vorarlberg gibt es diesbezüglich sehr interessante Bauwerke. Danach bearbeitete ich Tirol, Salzburg und Oberösterreich, sowie im Folgeband die Steiermark, Kärnten und Burgenland. Mittlerweile bin ich beim dritten Wien-Band angelangt . . .

...und sind gleichzeitig auch wieder vermehrt literarisch aktiv. In den letzten vier Jahren erschienen mit "einschlafgeschichten", "wiener linien" und mit "und oder oder und" gleich drei neue Bände.

Das ist es auch, was ich meine. Wenn ich zurückdenke an all die vielen Komplikationen rund um die erste Publikation der "wiener gruppe" . . .

Die Rede ist von "hosn rosn baa"?

Ja, der erste Dialektgedicht-Band mit H. C. Artmann, Gerhard Rühm und mir. Dieses Buch starb einen jämmerlichen Tod und wurde nicht einmal in Buchhandlungen, sondern beim "Gerngroß" um 3 Schilling 50 verramscht. Die Buchhandlungen weigerten sich nämlich, "diesen Mist" zu verkaufen.

Parallel zur "wiener gruppe" war am literarischen Sektor in Deutschland die "Gruppe 47" aktiv. Gab es zwischen diesen beiden Gruppierungen eine Form von Zusammenarbeit, von gegenseitiger Unterstützung?

Nein, genau das Gegenteil war der Fall. Die "Gruppe 47" hielt alles nieder, was Avantgarde war. Ihre Ausrichtung war einfach eine ganz andere.

Inwiefern anders?

Die "Gruppe 47" war einerseits konservativ, andererseits sehr politisch. Im Gegensatz zu Österreich hat man sich ja zu dem entsetzlichen politischen Erbe bekannt und versucht, diesen ideologischen Wahnsinn zu bewältigen. In Österreich spielte Vergangenheit im Grunde eine geringe Rolle. Alles war auf die Zukunft ausgerichtet. Was unsere literarischen Arbeiten anlangte, stießen wir bei der "Gruppe 47" auf absolutes Unverständnis. Diesbezüglicher Höhe- und gleichzeitig Tiefpunkt war eine Lesung von Konrad Bayer, im Rahmen derer er von der "Gruppe 47" dermaßen niedergemacht wurde, dass man dies nicht für möglich hielte, gäbe es davon nicht eine Tonbandaufnahme. Der einzige Anwesende, der sich auf Bayers Seite stellte, war Ledig-Rowohlt, der ihm auch einen Vertrag für seinen Roman "der sechste sinn" anbot.

Trotz der starken Ablehnungswelle erzielte die "wiener gruppe" dennoch einen Aufmerksamkeitsgrad, der Literatur heute nur noch in seltenen Fällen gelingt.

Wie gesagt: Damals wie heute war bzw. ist die Situation schwierig. Und ich frage mich, wie man es schaffen soll, sich zumindest mit einem Bruchteil dessen auseinander zu setzen, was der Buchmarkt produziert. Ich bin bald so weit, dass ich mir denke, wenigstens die eigenen Sachen sollte man lesen ( lacht ).

Zur PersonFriedrich Achleitner, geboren 1930 in Schalchen (OÖ), Architekturstudium bei Clemens Holzmeister, 1953 Diplom, bis 1958 freier Architekt, dann freier Schriftsteller (Mitglied der "wiener gruppe"), Architekturkritiker und -publizist; Lehrtätigkeit an der Akademie der Bildenden Künste, Wien; zuletzt Vorstand der Lehrkanzel für "Geschichte und Theorie der Architektur" an der Universität für Angewandte Kunst in Wien, 1998 Emeritierung.

Zahlreiche literarische Arbeiten, u. a. "quadratroman" (1973, Neuauflage 2007), "kaaas" (1995), "Die Plotteggs kommen" (1995), "einschlafgeschichten" (2003), "wiener linien" (2004), "und oder oder und" (2006).

Publikationen zur Architektur und Architekturgeschichte, u. a. "Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert", (1980 - 95, 4 Bände), "Nieder mit Fischer von Erlach" (1986), "Die rückwärtsgewandte Utopie" (1994), "Wiener Architektur" (1996) und "Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite?" (1997).

Zahlreiche Ehrungen, zuletzt Ehrenring der Universität für angewandte Kunst, Wien (2007), und Preis der Stadt Wien (2007).