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"Sozialismus ist, zu Ende gedacht, die Tyrannei der Dümmsten, Geringsten, Oberflächlichen und Dreiviertel-Schauspieler." Diese scharfen Worte schrieb Friedrich Nietzsche über den gerade entstehenden Sozialismus. Er prognostizierte eine Nivellierung nach unten, die der Sozialismus einleiten würde. Das Zitat ist zweifellos starker Tobak - aber steckt nicht auch ein Körnchen Wahrheit darin?
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Wenn sozialdemokratische Politiker die Rettung aus ihren Orientierungsnöten nur noch darin erkennen, die früher einmal intellektuell fundierten Positionen der Linken preiszugeben und sich dem Boulevard zu unterwerfen, tritt genau der Fall ein, den Nietzsche damals angedacht hat: Die Oberflächlichen übernehmen die Macht. Der "Kniefall vor dem Volk" (Zitat W. Faymann) ist ein Offenbarungseid der Elite und überlässt einem oberflächlichen Ungeist und auch dem Ressentiment der Massen das Feld. Durch die Demutsgeste von jemandem, der es besser wissen müsste, vor jemandem, der es nicht besser wissen kann, weil die Politik versagt hat, das Volk ausreichend zu bilden und zu informieren, wird zugegeben, was längst Sache ist - die jeweils aktuelle Volksmeinung ist maßgeblich, auch wenn sie kontraproduktiv ist. Wie dies im Falle der allgemeinen emotional motivierten EU-Ablehnung aus rationaler Sicht zweifellos zu diagnostizieren ist.
Die Bedienung des Ressentiments findet man auch bei anderen Parteien, die dem Populismus nicht widerstehen können: Das Geschwafel vom Kleinen Mann und der Aufwertung desselben ist uns aus den letzten Wahlkämpfen nur allzu gut in Erinnerung. Bei der populistischen Anbiederung an die Schlechtweggekommenen geht es nicht um bessere Lebensverhältnisse jener Menschengruppen, sondern rein um die Maximierung der Wählerstimmen für die Anbiederer.
Die Umschmeichelung der von Nietzsche in harter Diktion Angesprochenen führt zur Herrschaft derselben - aber ohne Besserung ihrer Daseinsverhältnisse. Die Politik wird nur noch auf ein Ziel fokussiert: Stimmvieh zu erzeugen, dem die Politik vor der Wahl nach dem Mund redet. Echte Politik kann danach nicht mehr gelingen, weil die intellektuellen Ressourcen dafür bei einem großen Bevölkerungsanteil fehlen. Die fortschreitende Aufwertung des Boulevards und seiner von ihm "betreuten" Massen führt zu dessen unumschränkter Hegemonie und einem medialen Politik-Surrogat.
Der Politik bleiben statt der Macht die Verantwortung und die daraus entstehende Pflicht zur Rechtfertigung. Denn "schuld" an irgendwas, das dem Boulevard nicht passt, ist stets die Politik, nie der Boulevard selbst. Das Ressentiment lechzt ständig nach Schuld und Schuldzuweisung, das liegt im Wesen der Massen, man lese nach bei Elias Canetti. Die Parteien, denen der Mut fehlt, ihre Standpunkte gegebenenfalls auch gegen die Boulevard-Meinung zu verteidigen, sind letzten Endes die großen Verlierer.
Marcus Franz ist Facharzt für Innere Medizin in Wien.