Mit Johanna Rachinger tritt eine Frau den Posten als Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) an, die durch und durch Verlagsfrau ist. Ihr Vorgänger war Diplomat: Mit Hans Marte scheidet ein Generaldirektor aus der Camera Praefecti, der die Österreichische Nationalbibliothek seit 1993 in sehr persönlicher Weise geleitet hat.
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Jahrhundertelang wurden Bücher von Verlegern produziert und von Bibliothekaren gesammelt. Die Professionen waren getrennt, gingen jedoch Hand in Hand; die Verlegerzunft verstand sich auf´s Büchermachen, während der Bibliothekar ein Fachmann für Systematik, Katalogisierung, Bibliographie und andere erschließende Künste war. Und so wanderten jahrhundertelang die Pflichtexemplare aus den Händen der Verleger in die Obhut der Bibliothekare. Dabei stellte sich eine gewisse Abgrenzung als sinnvoll heraus: Der Verleger widmet sich den Büchern, die es geben sollte, und der Bibliothekar denen, die es gibt.
Was geschieht, wenn die Rollen getauscht werden? Welche Bücher würde ein Bibliothekar verlegen? Vermutlich überwiegend Bücherverzeichnisse. Und wenn ein Verleger Bibliothekar wird, kann sich das unter Umständen auf die Auswahl der Neuerwerbungen auswirken. Mit Johanna Rachinger tritt nun eine Frau den Posten als Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek an, die durch und durch Verlagsfrau ist. Ihr Vorgänger Hans Marte erschien seinen Gesprächspartnern auf der einen Seite geradezu als Prototyp eines Bibliothekspräfekten: universell gebildet, bedächtig, tendenziell leise - in seinen Gedankengängen akzentuiert. Auf der anderen Seite sagte er einmal, er wolle sich bei seinen Aufgaben nicht von der gewaltigen Aura des Hauses gefangen nehmen lassen. Er ist als Reformer von Strukturen angetreten, die teilweise bis heute in jahrhundertealten Traditionen fest gefahren sind. Unter ihm begann die Bibliothek, sich konsequent um zusätzliche finanzielle Mittel zu bemühen, indem sie sich beispielsweise für Veranstaltungen verschiedenster Art öffnete. "Ich versuche mit meinem Hintern das Loch im Deich zu stopfen", sagte Marte auf seiner Abschieds-Pressekonferenz. Der angesehene Diplomat trat mit Idealen an, aber die finanziellen Mittel reichten hinten und vorne nicht. "Die Zahl der Planposten ist von 314 auf 275 geschrumpft, das Budget für Aufwendungen um 30%, jenes für Anlagen um 37%. Ich bin zornig, dass ich meiner Nachfolgerin die Bibliothek, die von der Bedeutung des historischen Bestandes her an fünfter, sechster Stelle der Welt steht, nicht in ruhigem Fahrwasser, sondern bei stürmischer See übergeben muss."
Derzeit wird das traditionsreiche Haus von einer Betriebsberatungsfirma auf die Effizienz der Arbeitsabläufe hin überprüft. Wer einmal Gelegenheit hatte, das Geschehen der einen oder anderen Abteilung mitzuerleben, konnte sich ein Bild von teilweise übertriebenen Frühstückspausen, Kaffeestündchen und langen Privattelephonaten machen. Wenn der frühe Weg in den Feierabend mit dem sehr frühzeitigen Erscheinen am Arbeitsplatz begründet wird, zwischen 6.30 und 9.00 Uhr jedoch geplauscht wird, dann hat es den Anschein, als könne man auch mit 275 Planstellen die anstehenden Aufgaben leicht bewältigen. Ein staatliches Kulturinstitut als Biotop der Pragmatisierten, wie man das von der TV-Satire "MA 2412" kennt - das ist überholt und gehört dringend gestrafft. Man darf erwarten, dass Rachinger mit dem marktwirtschaftlichen Hintergrund, den sie in ihre Arbeit einbringt, dazu manchen Impuls geben wird. Sie symbolisiert den Wandel der ÖNB zu einen vollrechtsfähigen Institut, das sich durch Servicequalität und betriebswirtschaftliche Führung behaupten soll.
Rachinger die richtige Frau zur richtigen Zeit. Sie ist die erste Generaldirektorin, bei deren Einstellung auch auf betriebswirtschaftliche Kompetenz geachtet wurde, die aber zugleich eine Frau des Buches zu sein scheint und sich selbst als bibliophilen Menschen sieht. Alle Bibliothekspräfekten und Generaldirektoren vor ihr waren hochgelehrte Wissenschaftler, studierte Leute, hochgediente Bibliothekare oder Fachleute auf historischen oder philologischen Gebieten. Zu Zeiten, in denen die Existenz der zentralen Bibliothek des Staates nicht gefährdet war, waren in leitender Position Kapazitäten gefragt, die vom Buch und seinem Inhalt möglichst umfassende Ahnung haben sollten. Die Reihe hochkarätiger Spitzenmanager hat Humanisten, kaiserliche Leibärzte, Forscher und Schriftsteller zu bieten, und indem einer dem anderen die Leitung der Bibliothek übergab, knüpften sie ein Band durch die Jahrhunderte, an dem entlang sich das Institut immer weiter entwickelte. Die Forderung nach mehr Raum und mehr Geld ist dabei so alt wie die Bibliothek selbst. Kaum zu glauben, dass lange Zeit hindurch lediglich das unter Karl VI. errichtete Bibliotheksgebäude am Josefsplatz mit einem Teil des Linken Seitenflügels für Personal und Bücher ausreichen musste. Mit der "Eroberung" weiter Teile der Neuen Hofburg und der Errichtung eines ausgreifenden Tiefspeichers, der bis weit unter den Burggarten vorgetrieben wurde, konnte man zumindest die chronische Platznot beheben. Der Ruf nach mehr Geld indessen ist nie verstummt; gegenwärtig hat die Österreichische Nationalbibliothek einen im internationalen Vergleich geradezu lächerlichen Etat für Ankäufe. Auf Auktionen muss die Bibliothek, die zu den sechs wichtigsten Bibliotheken der Welt gehört, zurückstecken, wenn München, Berlin, London, New York oder Washington erst richtig loslegen. Dadurch werden die Lücken immer größer; die bedeutende Sammlung droht immer weiter zurückzufallen.
Rachinger kann auf eine glänzende Karriere verweisen. Sie wurde in Putzleinsdorf in Oberösterreich als eines von sieben Kindern geboren. In Wien studierte sie Germanistik und Theaterwissenschaft. Dann arbeitete sie - zunächst im Rahmen eines Akademikertrainings - beim "Wiener Frauenverlag", den sie sich "ganz bewusst" ausgesucht hat. Seit 1992 ist Rachinger im Verlag Carl Ueberreuter tätig, wo sie zunächst den Kinder- und Jugendbuchbereich als Programmverantwortliche mit wirtschaftlichen Kompetenzen betreute. 1995 wechselte sie in die Geschäftsführung des Verlages, wo sie als harte Kalkuliererin galt.
6 Millionen Dokumente, 3 Millionen Bücher, 400.000 Manuskripte
Rachinger ist auch Vorstandsmitglied des Österreichischen Verlegerverbandes. Mit 41 Jahren wird sie nun als ÖNB-Generaldirektorin für 6 Millionen Dokumente, 3 Millionen Bücher und 400.000 Manuskripte verantwortlich sein. Erfahrung im Bibliothekswesen sammelte Rachinger in Salzburg, wo sie fünf Jahre lang im Bereich der öffentlichen Bibliotheken arbeitete - unter anderem als Chefredakteurin einer Büchereizeitschrift. Als Lehrbeauftragte zum Thema "Buchhandlungen, Verlage, Bibliotheken" sowie als Leiterin von Ausbildungskursen für Bibliothekare gab sie ihr Wissen weiter. In einem Interview, das sie Mitte Mai dem Rundfunkprogramm "Österreich 1" gab, bezeichnete sie sich selbst als Managerin mit einem guten Verhältnis zu den Büchern. Turgenjews Buch "Väter und Söhne" hat sie mindestens zehn Mal gelesen, doch schätzt sie auch die Werke von Schnitzler und Joseph Roth sowie die neuere Literatur. Sie sieht große Umbrüche kommen, hat jedoch keine Angst, dass aus der ÖNB ein Büchermuseum werden könnte.
Sie übernimmt das Haus an einem historischen Punkt: Die Bestände wachsen und wachsen, doch es gibt immer weniger Geld. Sowohl Bücher als auch neue Speicherformen sind gefährdet und müssen dringend gesichert werden. Das Internet entwickelt sich zur ernsten Konkurrenz. Das hauseigene Institut für Restaurierung benötigt geschätzt mindestens 80 Jahre, um nur die ärgsten Schäden an den im Prunksaal aufgestellten Büchern zu beheben. Daneben stellt sich auch die wichtige Aufgabe der Erschließung, und das zu einem Zeitpunkt, wo Jahrhunderte alte Kataloge und bewährte Dokumentationssysteme über Nacht beendet und durch elektronische Datensammlungen ersetzt wurden, von denen sich erst noch herausstellen muss, ob sie sich in Jahrzehnten und Jahrhunderten bewähren können oder nicht.
In der Feierlichkeit des ehrwürdigen Hauses sieht Rachinger zugleich Chance und Hemmschuh - neue Ideen haben gewisse Anlaufschwierigkeiten. Nach ihrer Ansicht wirkt das Haus altmodisch; insbesondere dringt von dem, was im Innern geleistet wird, nicht allzuviel nach draußen. In der Vollrechtsfähigkeit, die zu Neujahr 2002 erreicht sein soll, sieht sie viele Vorteile. Alles kann wesentlich flexibler werden, die Entscheidungswege werden kürzer, und auf Grund der im Haus gebündelten Entscheidungskompetenzen kann die Treffsicherheit bei Entscheidungen wesentlich erhöht werden. Dies hat mit der Verantwortung eines ordentlichen Kaufmanns zu geschehen.
Aus der "Schatzkammer der Republik" eine Marke machen
Marte gab seiner Nachfolgerin mit auf den Weg, die ÖNB müsse eine Marke werden. Die ersten Anzeichen dafür sind bereits sichtbar. Mittlerweile wird das Haus als eine Schatzkammer der Republik und ein identitätsstiftendes Symbol Österreichs gehandelt, und nicht nur Rachinger sieht es als den Hort der bedeutendsten Kunstschätze Österreichs. Auf die Frage, welche davon sie selbst zu ihren persönlichen Favoriten zählt, verweist sie auf die Musiksammlung, die immerhin ein Mozart-Requiem hütet, sowie auf die Papyrussammlung und die Kartensammlung. In viele Bereiche will sich Rachinger noch einarbeiten, beispielsweise in statistische Besuchs- und Leserzahlen, in die bekannteren Schätze des Hauses und wohl auch in die Grundprobleme historischer Buchbestände. Einstweilen kommt sie auf Inkunabeln zu sprechen, wenn sie zum Papierzerfall befragt wird, der doch nur die Bücher des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts gefährdet.
Eine besondere Schwierigkeit, mit der die Nationalbibliothek auch weiterhin zu kämpfen haben wird, ist das niedrige Ankaufsbudget. Marte: "Unser Ankaufsbudget ist so hoch wie das einer mittleren Universitätsbibliothek. So werden die Lücken immer größer." Die Möglichkeiten, Drittmittel zu lukrieren, werden schon jetzt voll ausgeschöpft, so dass in diesem Bereich kaum mit einer Steigerung der Einnahmen gerechnet werden kann. Eine Möglichkeit zur Geldbeschaffung liegt in der Nutzung des gewaltigen Bildarchivs.
Dessen Bestände werden bald im Internet zu sehen sein und können dann online bestellt werden. Rachinger sieht auch die Möglichkeit, Bücher aus der Bibliothek auf Anfrage einzeln zu reproduzieren und diese Kopien zu verkaufen. Solche Möglichkeiten kann man mittels neuer technischer Entwicklungen umsetzen, und die Verlagsmanagerin Rachinger wird das wirtschaftliche Gespür haben, auf diese Weise die zahllosen Schätze des Hauses dem Publikum zugänglich zu machen.
Digitale Reproduktionen als Geldquelle für die vollrechtsfähige Zukunft
Jeder, der einen guten Scanner und einen CD-Brenner besitzt, kann aus einem alten Buch eine praktische und qualitativ hochwertige digitale Edition machen. Mit wenig Aufwand könnte die ÖNB sowohl von Lesern nachgefragte Bücher als auch eine eigene Auswahl auf diese Weise publizieren, im Internet anbieten und zu einem kalkulierbaren Preis verkaufen. Auch einzelne Ausdrucke (Print on demand) könnte man leicht herstellen und an interessierte Büchersammler verkaufen. Ein Markt dafür ist vorhanden. In Zusammenarbeit mit einem engagierten Verlag ließen sich diese Dinge professionell vermarkten. Der ÖNB kann es nur nutzen, wenn nun eine Frau die Leitung übernimmt, die in der Verlagswirtschaft zu Hause ist und wirtschaftliche Chancen erkennt. Die Beschaffung eigener Mittel wird der wichtigste Zweck und zugleich die größte Herausforderung der Vollrechtsfähigkeit sein.
Während innerhalb der ÖNB also durchaus noch viele Probleme auf ihre Lösung warten, sieht es außerhalb besser aus. Mit dem deutlichen Karrieresprung kommt Rachinger auch ihrem persönlichen Wunsch einer Arktisdurchquerung näher, und auch ihr Ehemann Fritz Panzer kann sich über eine Gehaltsverbesserung freuen: Er wird nun Geschäftsführer des Ueberreuter-Verlages.