Zum Hauptinhalt springen

Frischer Wind in der Manege

Von Werner Schandor

Reflexionen

Zeitgenössischer Zirkus vereint Artistik, Tanz und Theater. In anderen Ländern schon anerkannt, beginnt sich diese neue Kunstform jetzt auch in Österreich zu etablieren.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

<p>

Artisten mit politischem Anspruch: der schwedische "Circus Cirkör".
© Nikola Milatovic/La Strada

Die Artisten der französischen Zirkustruppe Cheptel Aleïkum wissen, wie man Gäste willkommen heißt. Wer das Zelt betritt, das sie im Grazer Augarten aufgeschlagen haben, erhält von einer Artistin im Smoking ein herzliches Bussi links, eines rechts auf die Wange und wird dann in die Manege gebeten: Dort ist ein Büffet aufgebaut mit pikanten Häppchen, Obst, Schoko-Fondue und Crêpes-Pfanne, zum Trinken gibt es Säfte, Schnaps und Wein. Das Herz geht auf, und der Magen freut sich auch.<p>Als nach rund 15 Minuten alles aufgegessen und ausgetrunken ist, heißt es "Manege frei" für eineinhalb vergnügliche Stunden Akrobatik und Musik, wobei Fahrräder die Hauptrolle spielen: Zehn Personen, verteilt auf zwei Drahtesel, musikalische Verfolgungsjagden durch die Manege - Cheptel Aleïkum entführen ihr Publikum in eine sprühende Welt der Leichtigkeit; aber auch ein kurzes, pantomimisches Intermezzo über die Mechanismen der Unterdrückung hat Platz in ihrem Programm "Maintenant ou Jamais" (Jetzt oder nie).<p>Die 2004 ins Leben gerufene Truppe mit Stammsitz in Saint-Agil im Loire-Tal ist eine der zahlreichen Repräsentanten eines neuen, zeitgenössischen Zirkus in Europa, der, wenn es nach der Bundesregierung geht, künftig auch in Österreich bessere Bedingungen vorfinden soll. Seit 2016 stellt die Kunstsektion im Bundeskanzleramt einen Fördertopf für innovative Zirkusprojekte zur Verfügung. Der ist mit 200.000 Euro im Jahr zwar vergleichsweise schmal dotiert, aber es ist ein erster Schritt in Richtung Anerkennung der Zirkuskunst als förderungswürdige Kunstform. Anderswo ist sie längst etabliert, etwa in Frankreich oder Kanada.<p>

"Neuer Zirkus"

<p>"In den 1970er Jahren begann sich der klassische Nummernzirkus in Frankreich zu transformieren, er nahm Elemente von Tanz und Theater auf und entwickelte sich zum Neuen Zirkus", erläutert Werner Schrempf, Intendant von La Strada und Cirque Noël. Die beiden Grazer Festivals sind seit Jahren eine wichtige österreichische Anlaufadresse für entdeckenswerte zeitgenössische Zirkusproduktionen.<p>Unter dem Etikett "Neuer Zirkus" sind zumeist nur etablierte Institutionen bekannt wie der 1976 in Wien gegründete Circus Roncalli oder das von Montreal aus global agierende Imperium des Cirque du Soleil, der ab 9. März mit seinem Programm "AmaLuna" in Wien gastiert. Diese beiden Unternehmen knüpfen an die altbewährten Tugenden der Manege an - atemberaubende Artistik und verblüffende Körperbeherrschung -, verfeinern sie höchst erfolgreich mit choreografischer Finesse und professioneller Dramaturgie.<p>In den vergangenen Jahrzehnten hat sich der Zirkus vielerorts weiterentwickelt zu einer Kunst, die Artistik, Performance, digitale Medien und gesellschaftliche Anliegen miteinander verknüpft und damit abendfüllende Produktionen gestaltet. Die sind nicht mehr unbedingt auf das Rund einer Manege angewiesen, sondern fühlen sich oftmals auf Theater- und anderen Bühnen wohler. Zum Beispiel der Cirkus Cirkör aus Stockholm: Er machte unter der Ägide seiner Prinzipalin Tilde Björfors das Schicksal der Flüchtenden aus Krisenregionen zum Gegenstand seines jüngsten Programms "Limits". Dabei werden Grenzüberschreitungen sowohl artistisch als auch politisch interpretiert. "Alles ist möglich! Grenzen sind dazu da, überschritten zu werden. Limits müssen ausgeweitet werden", schreibt Björfors im Begleitheft zu diesem Programm, das mit schrägen Ebenen arbeitet, mit der wunderbaren Leichtigkeit von Trampolinartistik und mit Filmprojektionen von flüchtenden Menschen - die manche der Besucher so verstören, dass sie den Saal verlassen.<p>"Im traditionellen Zirkus geht es immer darum, übermenschliche Kräfte und Kunststücke vorzuführen und dabei noch zu lächeln, und es ist alles relativ mühelos. Im zeitgenössischen Zirkus geht es um eine Suche nach Authentizität, und da kann man auch mal mit Scheitern und Zerbrechlichkeit umgehen. Es geht um die Darstellung einer zeitgenössischen Subjektivität und Identität", sagt Elena Lydia Kreusch. Die Theaterwissenschafterin hat sich auf Zirkusforschung spezialisiert. Als weitere Tendenzen im zeitgenössischen Zirkus nennt sie: Er kommt ohne Tierdressur und ohne traditionelle Kostüme aus, und die normative Geschlechterdarstellung wird aufgebrochen. Es gibt Einflüsse anderer Kunstsparten wie Tanz, Theater und Performance, aber auch skulpturale Elemente der bildenden Kunst. Dramaturgisch bewegt sich der zeitgenössische Zirkus weg vom reinen Nummernprogramm hin zu abendfüllenden Stücken, die oft nur mit ein oder zwei artistischen Disziplinen arbeiten.<p>Elena Kreusch ist nicht nur Forscherin, sondern setzt als Expertin auch wesentliche praktische Akzente. Gemeinsam mit dem in Wien lebenden deutschen Artisten Arne Mannott hat sie die Internetplattform zirkusinfo.at eingerichtet. Es ist eine offene Plattform für alle, die in Österreich Zirkuskunst betreiben oder diese Kunstform unterstützen. Die Homepage www.zirkusinfo.at listet Künstler und Kompanien ebenso auf wie Aus- und Weiterbildungsstätten, Raumangebote und Dokumentationseinrichtungen in Österreich. Es ist eine erste Bestandsaufnahme des zarten Pflänzchens hierzulande und wird vom Bundeskanzleramt und von der IG Kultur unterstützt.<p>

"Master" in Zirkuskunst

<p>Die meisten Artisten, die sich dem zeitgenössischen Zirkus zurechnen, gibt es naturgemäß in Wien und Umgebung. Die wichtigsten Festivals für Neuen Zirkus finden aber in den Bundesländern Salzburg und Steiermark statt: La Strada und Cirque Noël in Graz wurden bereits genannt; das Winterfest in Salzburg ist aktuell das größte und wichtigste Festival zeitgenössischer Zirkuskunst in Österreich. Die Steiermark und Salzburg sind zur Zeit noch die einzigen Bundesländer, die Neuen Zirkus in ihrem Kulturförderportfolio führen.<p>"Der zeitgenössische Zirkus muss in Österreich sein ästhetisches Selbstverständnis erst finden und auch seinen Platz als Kunstform im Bewusstsein verankern", sagt Elena Kreusch. Während in Österreich artistische Straßenperformances - oft die Keimzelle der freien Zirkuskunst - mit rigiden Bestimmungen bürokratisch in Schach gehalten werden, blickt die Szene neiderfüllt nach Frankreich. Dort wird die Zirkuskunst seit den 1970er Jahren staatlich unterstützt: 90 Zirkusschulen, davon drei staatlich betriebene, bieten Ausbildungen an, die zum Teil mit Bachelor-Graden schließen. Zahlreiche Festivals bieten Auftrittsmöglichkeiten, auch Einrichtungen, die der Dokumentation dienen, haben im System Platz.<p>Der französische Staat fördert die Kunstform Zirkus mit 14 Millionen Euro jährlich. Auch Schweden hat in Sachen Ausbildung nachgezogen: An der Universität Stockholm kann man seinen Master in Zirkuskunst machen. Österreich ist von solchen Zuständen weit entfernt. Zirkus wird hier vorwiegend noch als Familienunterhaltung angesehen, die man mit kleinen Kindern besucht. Das ist keinesfalls geringzuschätzen, und die Kompanien, die klassisch mit ihren Zirkuswägen und Zelten durch Österreich touren, haben oft hervorragende Artistik im Programm. Doch der zeitgenössische Zirkus hat vielfach andere Ambitionen. Er hat nicht nur artistische, sondern auch ästhetische oder politische Ansprüche, die er niederschwellig unter die Leute bringen will. Mit zirkusinfo.at, mit der Förderung durch den Bund und mit Initiativen wie "con:circ - Zur Förderung des zeitgenössischen Zirkus in Österreich", der La Strada und das Winterfest angehören, will man diese Ambitionen befördern.<p>So bringt sich das Festival La Strada in Graz als Produktionsstätte ins Spiel, wo ausgewählte heimische Künstler und Kompanien eingeladen werden, neue Programme zu entwickeln. Salzburg will sich rund um das erfolgreiche Winterfest als Ausbildungsstätte etablieren. Die Konzepte für ein "Circus-Trainings-Zentrum" lagen schon länger vor. Unlängst haben Stadt und Land Salzburg grünes Licht gegeben: Sie beteiligen sich an den Start-Investitionen des Trainingszentrums mit über 700.000 Euro; im Herbst 2017 soll es den Betrieb aufnehmen.<p>

Förderungen in Wien

<p>In Wien, wo die freie Zirkusszene am stärksten vertreten ist, gibt es Signale aus dem Büro des Kulturstadtrats, dass man ebenfalls mit einer Förderung der Zirkuskunst nachziehen könnte. Und auf Bundesebene ist man zuversichtlich, dass der 2016 eingerichtete Fördertopf trotz erfolgten Wechsels im Ministerbüro auch über 2017 hinaus zur Verfügung steht. Gefördert werden "zeitlich begrenzte Projekte des Neuen Zirkus als künstlerische Bühnenform sowie innovative, zeitbezogene und experimentelle Einzelprojekte an der Schnittstelle zwischen Artistik, Schauspiel, Tanz, Musik, bildender Kunst, Neuen Medien", heißt es auf der Homepage der Kunstsektion.<p>Und was wünschen sich die Artisten selbst? - Großes Finale bei Cheptel Aleïkum: Eine Sprungwippe wird in die Manege gezogen. Ein Artist nach dem anderen wird von zwei Kollegen, die von einem Podest aus auf die Wippe hüpfen, in die Lüfte geschleudert und landet nach hohem Flug und einem Salto auf einer dicken Matte. Davor darf er sich vom Publikum etwas wünschen: eine herzliche Umarmung von einer Besucherin oder einen dicken Applaus vor dem Sprung. Dann steht der letzte Artist auf dem Brett der Wippe und sagt: "Ich bin nicht so dafür, dass jeder vor dem Sprung etwas verlangt; daher verlange ich nichts von Ihnen. Außer: Ich werde jetzt springen, und danach treffen wir uns in der Manege auf ein letztes Glas!" - Sprach’s und wurde in die Luft geschleudert.<p>Die aktuelle Ausgabe des "Zentralorgans für Kulturpolitik" der IG Kultur widmet sich ganz den zeitgenössischen Zirkuskünsten in Österreich. Das Heft "Heute. Zirkus. Morgen" ist um fünf Euro bei der IG Kultur erhältlich: Tel.: 01 5037120; E-Mail: office@igkultur.at

Werner Schandor, geboren 1967, lebt als Autor, Journalist und Fachhochschullektor in Graz.