Beim Verfassungsreferendum in Ägypten bedeuten viele Teilnehmer zugleich eine Absage an die gemäßigt religiösen Kräfte und an die Muslimbrüder.
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Es ist ein halbes Jahr vergangen, seit das Militär in Ägypten die demokratisch legitimierten Institutionen hinweggeputscht hat, anstatt sie vom unzufriedenen Stimmvolk abwählen zu lassen. Die gegenwärtige Regierung von Übergangspremier Hasim al-Beblawi, so verschieden sie ideologisch von ihrer Vorgängerin sein mag, bedient sich machtpolitisch der gleichen Strategien: Oppositionelle werden nicht eingebunden, sondern kriminalisiert.
Bloß ist sie darin effizienter als Mohammed Mursis Chaostruppe, schließlich übt sich das Militär seit Gamal Abdel Nasser, Anwar as-Sadat und Hosni Mubarak in den Mechanismen der Unterdrückung und im Schaffen von Loyalitäten durch Vergabe von Privilegien.
Heute gibt es Hotlines, bei denen man Leute als Muslimbrüder denunzieren kann. Bewegliches und unbewegliches Eigentum von Muslimbrüdern wird konfisziert. Unliebsame Reporter werden verhaftet. Schiiten werden systematisch diskriminiert. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen eine Stoffpuppe, die terroristischer Aktivitäten verdächtig ist.
So lauten die jüngsten alarmierenden bis skurrilen Schlagzeilen. Nahezu täglich gibt es jetzt Scharmützel zwischen Sicherheitskräften und Oppositionellen. Manchmal arten sie aus in ein Gemetzel. Propaganda gegen das Verfassungsreferendum wurde mit Verhaftungen geahndet. Dass der Entwurf von den Wahlberechtigten mehrheitlich abgelehnt wird, ist ausgeschlossen. Die einzige Form des Protestes, die ihnen bleibt, besteht darin, nicht zur Abstimmung zu gehen. Deswegen haben die Muslimbrüder ihre Anhänger zum Boykott aufgefordert.
Die Übergangsregierung scheint auch Bürgerkrieg als konstruktives Mittel des Machterhalts anzudenken, wohl in der Überzeugung, mit US-Kriegsgerät und Saudi-Milliarden unter den Gegnern rasch aufräumen zu können. Die einen erschießt man gleich auf offener Straße, die anderen steckt man ins Gefängnis, wo ihre Anführer schon sind. So hofft man, den Status quo vor der Revolution rasch wiederherzustellen. Dann arrangiert man sich mit den Liberalen und für die Demokratie-Anhänger, die sich irgendwann auch wieder zu Wort melden werden, organisiert man ab und zu Scheinwahlen. Und man vergisst nicht die Christen: So besuchte Anfang Jänner Interimspräsident Adli Mansur den koptischen Patriarchen Tawadros II., was zuletzt Präsident Nasser vor mehr als 40 Jahren tat.
In Kairo herrscht eine Militärdiktatur, die sich dermaßen fest im Sattel wähnt, dass sie all diese die Menschenwürde und -rechte mit Füßen tretenden Maßnahmen offen setzen kann. Und die benachbarten Rechtsstaaten schauen zu oder weg.
Ist also nichts anders als unter Mubarak? Eines schon. Die Männer und Frauen auf der Straße wissen nun, dass es möglich ist, eine Revolution zu inszenieren und eine Regierung samt ihrem Pharao zu stürzen. Eines Tages, wenn der Leidensdruck zu groß geworden ist, könnten sie sich drauf besinnen. Eines Tages werden sie es schaffen, sich zu organisieren, die Kräfte zu bündeln und vereint gegen die Diktatur und ihre Begleiterscheinungen aufzustehen.