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Frostbeulen und Anstehen um Brot

Von Thomas Schmidinger

Politik

Flüchtlinge haben trotz prekärer Lage kaum Chance auf Aufnahme in EU.


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Damaskus. Sieben Monate ist es her, dass Adla Sheikho ihre vier Kinder packte und mit ihrem Mann so schnell wie möglich versuchte, noch irgendwie aus dem umkämpften Aleppo hinauszukommen. Die zweitgrößte Stadt Syriens war innerhalb weniger Wochen zum Kriegsschauplatz geworden. Als Ende September der weltweit größte gedeckte Bazar, ein Herzstück des Unesco-Weltkulturerbes der Altstadt von Aleppo, niederbrannte, hatte sich die Familie bereits im kurdischen Norden des Landes in Sicherheit gebracht.

Mit vierzehn anderen Familien leben sie seither in einem noch nicht ganz fertiggestellten Schulgebäude am Rande der Kleinstadt Amude. Weder das UNHCR noch eine der großen internationalen NGOs haben bisher hierher gefunden. Versorgt werden diese intern Vertriebenen fast ausschließlich von der lokalen Bevölkerung. Zwei Vereine, die von sozial engagierten Bürgern der Stadt gegründet wurden, bringen Lebensmittel und zahlen den Flüchtlingen pro Person 1000 syrische Pfund im Monat, das sind umgerechnet etwas mehr als 10 Euro. Damit kann man auch in Syrien nicht über die Runden kommen, schon gar nicht, wenn die Lebensmittelpreise durch die Versorgungsknappheit ständig steigen.

Doktor Diloban al-Nuri, der vor seiner Flucht in einem Spital in der syrischen Hauptstadt Damaskus arbeitete, zeigt auf die Füße eines vielleicht drei Jahre alten Kleinkindes: "Diese Mutter hat keine Schuhe für das Kind, deshalb haben sich auf den Füßen schon Frostbeulen gebildet. Wenn wir nicht rasch etwas unternehmen, bleibt das Kind dauerhaft geschädigt."

In der zum Lager für die intern Vertriebenen umfunktionierten Schule leben Kurden und Araber zusammen, teilweise sogar innerhalb einer Familie. Der Kurde Amir Serhan ist mit seiner arabischen Frau Hiyam Mohammed Jamar ebenfalls aus Aleppo geflohen. In drei Monaten erwartet die Frau ihr fünftes Kind. "Wir wissen gar nicht, ob unser Haus noch existiert", erzählt die jugendlich wirkende Frau: "Angeblich kontrolliert die Freie Syrische Armee jetzt das Viertel, in dem es liegt. Mehr wissen wir nicht. Wir sind froh, dass wir uns und unsere Kinder in Sicherheit gebracht haben." Nach Aleppo wollen sie erst wieder zurück, wenn der Krieg zu Ende ist. Die älteren ihrer vier Kinder besuchen hier zwar die Schule, aber es mangelt an Schreibmaterial, Büchern und Spielsachen. Vor zwei Wochen sei das UNO-Kinderhilfswerk Unicef mit einer Tasche voller Spielzeug vorbeigekommen. Die Mitarbeiter hätten kurz mit den Kindern gespielt, einige Fotos gemacht und dann die Spielsachen wieder eingepackt. Seither seien sie nicht wieder gesehen worden, erzählt die Familie.

Auch Amir Serhans Mutter und seine zwei Schwestern sind seit einem halben Jahr hier untergebracht. Seine Mutter Khanime Ahmed war mit einem Kurden aus dem Libanon verheiratet. Als ihr Haus in Aleppo niederbrannte, wurden auch alle ihre Dokumente vernichtet: "Wegen meines Mannes waren wir libanesische Staatsbürger. Jetzt sind wir de facto staatenlos."

Zwischen den Fronten

Einer ihrer Söhne sitzt aufgrund politischer Aktivitäten im Zentralgefängnis von Aleppo. Vor vier Jahren wurde er zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Seine Haftstrafe wäre bereits vorüber. Dann kam allerdings der Krieg. Das Gericht, das ihn verurteilt hat, wird heute von der Freien Syrischen Armee kontrolliert, das Gefängnis, in dem er sitzt, hingegen von den Regierungstruppen Bashar al-Assads. Die Gefängnisverwaltung weigert sich, den Sohn ohne den Gerichtsakt zu enthaften, und da dieser in den Händen der gegnerischen Kriegspartei liegt, wird er weiter in Gefangenschaft gehalten.

Trotz der offensichtlichen Not wollen die hier festsitzenden intern Vertriebenen das Land nicht verlassen. Es hat sich herumgesprochen, wie schwierig es ist, in Europa Asyl zu bekommen und wie gefährlich es ist, dorthin zu gelangen.

Tödliche Flucht

39 Flüchtlinge aus Amude nahmen das Risiko der Reise nach Beginn des Bürgerkrieges trotzdem in Kauf. Als sie am 6. September 2012 in der Nähe von Izmir versuchten, mit einem kleinen Boot auf eine der griechischen Inseln und damit in die Europäische Union zu gelangen, ertranken sie alle im Mittelmeer. Eine gemeinsame Gedenkstätte am Friedhof erinnert heute an die Katastrophe, die die ganze Familien mit ihren Kindern auslöschte. In der Stadt erzählt man sich, dass einigen der Leichen Organe gefehlt hätten. Es gibt wilde Spekulationen darüber, was vor fünfeinhalb Monaten an der Außengrenze der Festung Europa wirklich geschehen ist. Das Schicksal der 39 Flüchtlinge steht jedenfalls für viele, die versuchen, über das Mittelmeer auf EU-Gebiet zu gelangen - und dabei zu Tode kommen. Schon für 2011 hatte das UNHCR geschätzt, dass 1500 Menschen ertrunken sind. 2012 waren es wahrscheinlich noch mehr.

Die Mehrheit der Flüchtlinge bleibt vorerst in der Region und hofft, bald zurückkehren zu können. Seit Beginn des Bürgerkriegs sind rund 200.000 Syrer in die Türkei geflohen. Je 100.000 dürften in Jordanien und im Libanon Aufnahme gefunden haben, noch einmal rund 60.000 im Irak. Insgesamt haben 860.000 Syrer das Land verlasen. Den weitaus größten Teil bilden jedoch jene Millionen Binnenflüchtlinge, die sich aus den umkämpften Gebieten in relativ sicherere Regionen innerhalb Syriens zurückziehen konnten. Nach Angaben der kurdischen Parteien dürften sich allein in den kurdischen Gebieten rund 500.000 Binnenflüchtlinge aufhalten.

Überlebenskampf

Hassan Mohamed Ali, Mitglied im Obersten Kurdischen Komitee und außenpolitischer Repräsentant der PKK-Schwesterpartei PYD (Partei der Demokratischen Union), beklagt sich darüber, dass es für die intern Vertriebenen, die in Syrisch-Kurdistan gestrandet sind, keine internationale Unterstützung gibt: "Bei uns sind keinerlei internationale Organisationen aktiv. Diese Leute überleben nur, weil die Bevölkerung ihnen hilft. Aber die Versorgungslage ist auch für die normale Bevölkerung immer schwieriger."

Auch die anderen kurdischen Parteien betonen, dass dieser Flüchtlingsansturm alleine nicht bewältigbar ist. Muhammed Ali Mosa, ein Lehrer aus Amude, der gemeinsam mit Lukman Omari den parteiunabhängigen Verein Duad al-hayr gegründet hat, um den Flüchtlingen unter die Arme zu greifen, appelliert an die internationale Öffentlichkeit: "Wir können nicht mehr tun. In Amude gibt es insgesamt 280 Familien, die in den letzten Monaten hierher flüchteten. Dazu kommen noch 240 Familien, die früher in Amude lebten und aufgrund der wirtschaftlichen Situation jahrelang in Damaskus oder Aleppo gelebt und gearbeitet haben und jetzt zurückgekehrt sind. Von denen haben zwar viele Verwandte hier. Aber die haben oft selbst nicht genug." Ohne internationale Unterstützung fürchten Lukman Omari und Muhammed Ali Mosa, dass es tatsächlich irgendwann nicht mehr genug Nahrungsmittel geben können.

Kaum Benzin und Strom

Die Versorgungsproblematik ist auch für die lokale Bevölkerung allerorts spürbar. Benzin und Diesel sind knapp. Dass ausgerechnet dieser Winter auch noch einer der kältesten seit vielen Jahren ist, verschärft den Mangel an Heizmaterial. Strom gibt es höchstens eine Stunde am Tag und die langen Schlangen vor den Bäckereien um drei Uhr Früh machen deutlich, dass selbst Brot mittlerweile zur Mangelware geworden ist.

Da die Türkei bisher nicht bereit war, ihre Grenze in das Kurdengebiet für Waren zu öffnen, liegt nun die Hoffnung der syrischen Kurden auf der Öffnung der Grenze nach Irakisch-Kurdistan. Auf Vermittlung des Kurdischen Nationalrates ist der Grenzübergang bei Fishkhapur wieder passierbar. Die Kurdische Regionalregierung im Irak hatte diesen geschlossen, weil der PYD vorgeworfen worden war, Steuern und Bestechungsgelder auf Nahrungsmittellieferungen einzuheben. Nachdem sich der Kurdische Nationalrat und die PYD jedoch auf eine gemeinsame Grenzkontrolle geeinigt hatten, stimmte nun auch die Kurdische Regionalregierung im Irak einer erneuten Öffnung zu. Seither entspannt sich die Versorgungslage zwar etwas, eine grundlegende Verbesserung der Situation der Bevölkerung und der Binnenflüchtlinge wäre jedoch wohl nur durch internationale Unterstützung möglich.