Zum Hauptinhalt springen

Fruchtbare Widersprüche

Von Matthias Winterer

Reflexionen

Schorsch Kamerun, Sänger der Goldenen Zitronen, hat seinen ersten Roman geschrieben. Eine Begegnung.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Dassich immer nur weg will von euch, macht mein Leben zu schnell", sang Schorsch Kamerun schon vor Jahren bei den Goldenen Zitronen. Seine Flucht treibt ihn manchmal auch nach Wien.
© privat

"Die schönste Zeit meines Lebens war leider ein Filmriss", ächzt die Stimme atemlos. Halb singend, halb sprechend. Sie wirkt gellend, fast nervig und macht doch irgendwie süchtig. Wie ein seltsames Gesicht, das man anstarren muss. Mal schrill, mal flüsternd, mal hauchend mäandert sie in absonderlichem Duktus durch das Lied. "Immer diese Widersprüche. Widersprüche. Widersprüche. Und manchmal auch die Selbstzweifel", schreit die Stimme. Sie gehört Schorsch Kamerun.

Schorsch Kamerun heißt eigentlich Thomas Sehl. Oder Silvester Boy. Oder doch Tommi from Germany? Die Grenzen verwischen. Er ist vieles, vor allem aber eines – Sänger der Goldenen Zitronen, der wichtigsten Punkband Deutschlands.

Doch heute wird die Stimme lesen, nicht singen. Denn Schorsch Kamerun hat mit "Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens" seinen ersten Roman vorgelegt. Dabei entpuppt er sich als äußerst geschickter Analyst unkonventioneller Lebensentwürfe. Angelehnt an sein eigenes Leben, folgt man der Hauptfigur Horsti – aus dem in einem subversiven Akt schnell "Tommi from Germany" werden soll – durch ein Leben im Widerspruch. Im Widerspruch zur Elterngeneration, im Widerspruch zu Deutschland, im Widerspruch zu sich selbst. Im Punk sozialisiert, zieht er vom provinziellen Hinterland nach Hamburg, gründet eine Band, betreibt einen Club und rutscht in die Hochkultur. Horsti inszeniert an den großen Bühnen im deutschsprachigen Raum.

Scheppernd, treibend, anarchisch 

Seit 30 Jahren verweigern sich die Goldenen Zitronen der Vermarktung der Musikindustrie.
© Frank Egel

Genau wie Kamerun. Der drahtige Mann sitzt in einem Wiener Kaffeehaus. Wie 53 sieht er eigentlich nicht aus. Der grüne Pullover mit dem Adelswappen auf der Brust wirkt ironisch. "Das Buch ist keine Autobiografie. Aber sicher werden meine persönlichen Themen abgearbeitet", sagt er. "Etwa dieser ständige Drang zur Flucht." So richtig zugehörig habe er sich nie gefühlt, als Teil einer homogenen Gruppe. Weder zur spießbürgerlichen Welt der Eltern, noch zur teils dogmatischen Punk-Szene in Hamburg – und jetzt auch nur zu wenigen Teilen der Theaterwelt. "Dass ich immer nur weg will von euch, macht mein Leben zu schnell", sang er schon vor Jahren bei den Goldenen Zitronen.

Und mit denen fing alles an. Mitten im Kosmos der besetzten Hafenstraße in St. Pauli gründete sich die Band Mitte der 1980er-Jahre. Sie ist eine chaotische Spaßlawine, die plärrend durch besetzte Häuser und Kneipen rollt. Auf Bandfotos sind sie verkleidet, tragen Blumenkleider, Fußballschuhe, riesige Sombreros. Ihre Musik ist eine Mischung aus Schlager, Rock, Country und natürlich Punk. Scheppernd, treibend, anarchisch. Später wird man sie Fun-Punk nennen.

Doch die vordergründige Gaudi hat durchaus Kalkül – auch wenn das keines der Bandmitglieder damals so artikuliert hätte. Denn die vier Punks wollen so gar nicht zum Schneller-Härter-Lauter– Image des Punkrock der 1980er Jahre passen. "In Opposition zur damaligen genormten Irokesenpunk-Welle haben wir angefangen Schlager zu persiflieren und sind in Blümchenklamotten auf die Bühnen gegangen", erzählt Kamerun. "Es macht Sinn, Tabus zu brechen. Und damals gab es jede Menge Punk-Tabus, die wir wunderbar brechen konnten."

Verweigerung als Ausdrucksmittel

Ein erster Bruch also. In der Geschichte der Goldenen Zitronen sollte es noch viele geben. Die Platte "Am Tag als Thomas Anders starb" wird zur erfolgreichsten deutschsprachigen Indie-Single. Spätestens jetzt werden die Jugendzeitschrift "BRAVO" und die großen Plattenfirmen auf die Band aufmerksam. Dem Durchbruch steht nichts mehr im Wege – außer der Band selbst. Sie verweigert sich, lehnt alle Angebote ab. "Wir hatten als Vorprogramm größerer Bands einige Erfahrungen mit dem Musikbusiness gemacht", sagt Kamerun. "Plötzlich gab es bei den Auftritten Securitys und Armbänder, abgesperrte Bereiche, in die nur bestimmte Menschen durften. Das war irgendwie nichts für uns."

Die Platte "Fuck You" aus dem Jahr 1990 kann durchaus als Reaktion auf diese ersten Kontakte mit der Musikindustrie verstanden werden. Auf dem Cover essen die Mitglieder der Band in Blumenkostümen Platten der Major-Labels. "Wir wollten den Dunst des Fun-Punks deutlich abstreifen", sagt Kamerun. "Es war schon unerträglich. Aus dem anfänglichen Tabubruch war ein Albtraum geworden. Massen von besoffenen, schnauzbärtigen Männern grölten die Lieder mit. Wir waren bierzeltkompatibel geworden."

Die Musik verändert sich. Sie wird zunehmend spröder, experimenteller, weniger eingängig. Vom Fun-Punk-Gassenhauer entwickelten sich die Lieder der Goldenen Zitronen zu einer schwer beschreibbaren Genre-Mischung. Sie oszilliert irgendwo zwischen Post-Punk, Garagen-Trash, Electro, Hip-Hop, Free-Jazz, Noise-Rock und Avantgarde. Von nun an spielen sie in ihrer eigenen Schublade – einer eigenwilligen und kaum zu vermarktenden.

Keine platten Parolen

Auch die Texte sind keinesfalls massentauglich. Sie klopfen gesellschaftspolitische Themen ab. Der Bogen spannt sich von der Orwell’schen Totalüberwachung, über die Flüchtlingsthematik, Gentrifizierung bis hin zu einer allgemeinen Kapitalismuskritik. Keine leichte Kost für Popsongs, vor allem, weil sich die Texte nicht in platte Parolen verlieren, sondern eher als theoretischer Unterbau einer klassenlosen Gesellschaft daherkommen.

Gefälligkeit kann man den Zitronen wohl nicht vorwerfen. Und Kamerun auch nicht. Denn so wie die Musik der Zitronen, lässt sich auch sein Buch nicht einordnen. Die Geschichte seiner Jugend wurde kein komisch leichtfüßiger Adoleszenzroman wie etwa "Dorfpunks" von Kollegen Rocko Schamoni.
"Rocko hat das wirklich meisterhaft gelöst. Aber wieso soll ich sowas nochmal machen? Dorfpunks gibt es ja schon", sagt Kamerun. So schrieb er ein Konglomerat aus autobiografisch angehauchten Anekdoten und theoretischen Exkursen. Es geht um Menschen, die sich dem Leben in der Einfamilienhaussiedlung verweigerten, die sich für ein Leben in der Subver- sion und gegen Rasenmähen am Samstag entscheiden. "Das Angebot der Gesellschaft war sehr schwach damals: Schule, Lehre, Ausbildung, Arbeit, Tod. Irgendwie hatten wir andere Ideen." Doch es geht auch um Ernüchterung, denn auch die Anarchie wird mit der Zeit ein Teil des sogenannten Mainstream. Schmerzlich stellt der Punk dann fest, dass sich "schwarze Anarcho-Sterne auf H&M-Hemdchen" finden.

Symptomatisch für diese Entwicklung ist der Golden Pudel Club, den Kamerun im Kollektiv mit Gleichgesinnten in einem ehemaligen Schmugglerknast am St. Pauli Fischmarkt gegen alle Widerstände verteidigt. 1995 verhinderten Aktivisten aus dem Pudel-Umfeld gemeinsam mit Anrainern erfolgreich die Bebauung des angrenzenden Antoniparks. Der Club selbst ist längst ein Symbol gegen den zunehmenden Ausverkauf Hamburgs geworden.

Kampfzone Freiraum

"Der Pudel ist eine sich ständig selbst auffrischende Keimzelle von Unkultur. Etwas, was nicht maximal kommerziell und touristisch ist, sondern widerborstig und sonderbar", beschrieb Rocko Schamoni den Club einmal. "Aber, natürlich trägt auch unser Laden zur Aufwertung der Gegend bei", sagt Kamerun heute. "Wir sind mitverantwortlich dafür, was hier passiert. Nur sind wir nicht an einer Wertschöpfung aus der boomenden Gegend interessiert."

Das Dilemma der Gegenkultur, die sich oft nur als neue Spielart des alten Systems entpuppt, beschäftigt Kamerun dennoch. "Diese ‚Ästhetik des Widerspruchs‘ löst Zweifel in mir aus und treibt mich gleichzeitig an", sagt er.
Mit dem Kampf um die Freiräume der Stadt setzt sich auch "Die disparate Stadt", Kameruns neueste Regiearbeit am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, auseinander. Dass er hier gelandet ist, mag seltsam anmuten, passt aber durchaus. Denn schon immer wilderte Kamerun in unzähligen Formaten. Er protestierte in Videos als Bauhelm-tragender Investor gegen den Ausverkauf der Städte, drehte die erste Realityshow im deutschsprachigen Raum, nahm Hörspiele auf und ist jetzt eben auch am Theater.

Dabei ist aus dem Punk kein gesettelter Theatermacher geworden. "Ich mag das Theater als Ort mit tausend Möglichkeiten, an dem man herrlich ausprobieren kann. Aber auch hier existieren Hierachien und manch Verkrustungen. Wir versuchen aber genau das zu thematisieren und aufzubrechen", sagt er. Ein Widerspruch also – schon wieder.

Schorsch Kamerun
Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens
Roman. Ullstein Verlag, 2016,
256 Seiten, 18,50 Euro.