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Früher Gesang deutscher Einigkeit

Von Thomas Hofmann

Reflexionen
Ein Mammutbau: die Sängerhalle auf der Jesuitenwiese im Wiener Prater.
© Archiv Thomas Hofmann

Im Juli 1928 fand in Wien das 10. Deutsche Sängerbundfest statt. Die Veranstaltung huldigte aber nicht nur dem Liederfürsten Franz Schubert, sondern auch der "großdeutschen" Idee.


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"Franz Schubert im Himmel", das war das Titelbild der satirischen Wochenzeitschrift "Der Götz von Berlichingen" vom 20. Juli 1928. Der 1828 verstorbene Liederfürst blickt auf die Massen vor der großen Sängerhalle und fragt sich: "Jetzt weiß ich nicht, geschieht das alles wegen mir oder wegen des Fremdenverkehrs?!"

Liest man die Zeitungen dieser Tage, zeigt sich eine differenzierte Antwort. Natürlich war Schuberts 100. Todestag der Grund dafür, den 10. Deutschen Sängertag von 19. bis 23. Juli 1928 nach Wien zu holen. Doch es ging nicht allein um den Komponisten, vielmehr wurde jede Gelegenheit genutzt, um das Verbindende mit den deutschen Nachbarn in den Vordergrund zu rücken. Selbstredend wurden in Wien die germanischen Sangesbrüder mit "Heil!" begrüßt.

Bereits im Herbst 1927 hatten sich über 100.000 deutsche Gäste angemeldet, um nach Wien zu kommen. Besonderes Augenmerk galt dabei den über den Globus verstreuten Auslandsdeutschen, die man in großer Zahl erwartete. Manche kamen aus den einstigen Kolonien, andere aus Amerika; so schifften sich am 21. Juni 330 Sänger in New York auf dem Dampfer "Stuttgart" mit dem Ziel Wien ein.

Maximaler Profit

Die Ankunft der Sänger war generalstabsmäßig geplant worden, die meisten Teilnehmer kamen mit Sonderzügen, einige per Schiff, viele als Individualreisende. Die angekündigten Gruppen wurden empfangen, begrüßt und dann in ihre Quartiere in Wien und Umgebung gebracht. Donnerstag der 19. Juli war der Tag der Massenankünfte, allein 69 Sonderzüge brachten mehr als 50.000 Reisende nach Wien.

Details enthüllt die "Wiener Zeitung": sie listete Bahnhöfe, die exakten Ankunftszeiten, die Zahl der Gäste und deren Quartiere auf. Der Hessische Sängerbund etwa kam in zwei Sonderzügen um 11.35 und 13.51 Uhr an. Seine Unterkünfte waren im sechsten, siebenten und im fünfzehnten Gemeindebezirk. Quartiere außerhalb Wiens, in Süßenbrunn (heute ein Teil des 22. Bezirks) und Deutsch-Wagram, mussten die 700 Barden aus dem Gau Brünn beziehen. Die Unterbringung der großen Massen, für die ein eigener Wohnungsausschuss zuständig war, erfolgte in Schulen, in Kasernen und vielfach auch in Privathaushalten.

Wien hatte alles getan, um sich herauszuputzen. Die Chance, von so vielen Personen besucht und gesehen zu werden, kommt nicht alle Tage. Selbst die Trafiken befanden sich im Festschmuck, galt es doch, den Reichsdeutschen Sängern zu zeigen, was in einem Land mit Tabakmonopol alles möglich ist. Die Tabakregie tat das Ihrige, um Gästen und Einheimischen zu imponieren.

Sie brachte nicht nur neue Sorten auf den Markt, sondern schuf auch zwei Zigarren- und zwei Zigarettenkollektionen in "Schubert-Kassetten", die Bildnisse des Komponisten zeigten. "Diese Festgaben sollen nicht nur dem österreichischen Raucher, sondern auch den beim Sängerbundfest in Wien weilenden Deutschen aus dem Reiche ein Andenken an schöne Tage sein." ("Tagblatt", 24. Juni 1928).

Die sozialdemokratische "Arbeiter Zeitung" vom 19. Juli, die sich in Sachen Berichterstattung zum Fest eher zurückhält, enthüllt weitere Details. So wurden neben einer neuen Damenzigarette mit rotem Seidenbelag ("Asta") für die Herren erstmals englische und amerikanische Marken in eigener Erzeugung angeboten. "Zum amerikanischen Typ gehören die Zigaretten ,Smart‘ zum Preise von 10 g und ,Jonny‘, zum Preise von 8 g per Stück. Die ,Smart‘ ist in goldweißen Kartons zu zwanzig Stück und die ,Jonny‘ in Aluminiumfolien eingehüllt, zu zwanzig Stück in Manschetten verpackt."

Dass derartige Events auch genutzt wurden, um maximalen Profit zu machen, zeigt eine Aktion des Hotels Nordbahn in der Praterstraße. Hier verlangte man am 22. Juli einen "Festtagsaufschlag" von zwanzig Schilling, mit der Begründung, der Festzug werde unmittelbar vor dem Hotel vorbeiführen. Betroffen waren nicht nur Neuangekommene, sondern auch schon länger anwesende Gäste. Anders verhielt sich die Anker-Versicherung. Sie zeigte sich bereit, nach Voranmeldung eigens für die Sänger alle Figuren der berühmten Ankeruhr, quasi auf Abruf, jederzeit defilieren zu lassen.

Das Frühjahr 1928 galt den Vorbereitungen. An erster Stelle der To-do-Liste stand der Bau der Sängerhalle auf der Jesuitenwiese im Prater. Sie übertraf alles bisher Dagewesene. Dachte man zunächst, die Sänger in der nahen Rotunde unterzubringen, entschloss man sich bald für die Errichtung eines temporären Holzbaues nach Plänen von Architekt Georg Rupprecht mit einer Gesamtfläche von über 20.000 Quadratmetern. Das dreischiffige Bauwerk mit erhöhtem Mittelteil war für 35.000 Sänger und 40.000 Zuhörer konzipiert. Es konnte doppelt so viele Menschen aufnehmen wie dieRotunde, die immerhin die damals weltgrößte Kuppel besaß.

An der Stirnfront befand sich ein Podium samt fünf Meter hohem Dirigententurm. Ganze sechzig Meter maß das Mittelschiff und war damit breiter als der Schwarzenbergplatz - ein eindrucksvoller Vergleich, den die "Wiener Zeitung" am 9. Mai zog.

Festzug als Höhepunkt

Auch hinsichtlich des Baumaterials machte sie genaue Angaben: 240 Waggons Holz und fünf Waggons Eisen wurden für die Verbindungen benötigt. Am 1. Juli war der Bau fertig, für einen Schilling Eintritt durfte man die Halle besichtigen und den Klängen einer Militärmusikkapelle lauschen.

Doch damit nicht genug. Rund um den Bau war ein ganzes Dorf mit Buden und Ständen aufgebaut worden, um für das leibliche Wohl der Teilnehmer zu sorgen. "Um zur Sängerhalle zu gelangen, muß man sich wie im Schlaraffenland durch riesige Berge von Würsten, Schinken, Braten, Kuchen und Torten durcharbeiten, muß an Milch-, Bier- und Weinquellen vorüberwandern, und an Stelle der gebratenen Tauben fliegt einem Rindsgulasch in den Mund." ("Neue Freie Presse", 20. Juli 1928). Und überall wurde musiziert: hier ein Schrammelquartett, dort der "Tannhäuser"-Einzugsmarsch und der Donauwalzer.

Festzug in den Prater - vor der Staatsoper.
© Archiv Thomas Hofmann

Am 19. Juli erfolgte in der Sängerhalle um sieben Uhr abends die offizielle Eröffnung unter Anwesenheit zahlreicher Politiker, angeführt von Bundeskanzler Dr. Ignaz Seipel. Unmissverständlich waren hier die Worte von der Einheit des deutschen Volkes zu hören. Gesungen und musiziert wurde in den nächsten Tagen keineswegs nur in der Halle, wo die Hauptaufführungen stattfanden, auch die Konzertsäle der Stadt (vom Musikverein bis zum Konzerthaus) wurden förmlich nonstop bespielt.

Der Höhepunkt des Events war aber der Festzug am 22. Juli vom Ring in den Prater zur Sängerhalle. Das Zelt der Festtribüne war vor dem äußeren Burgtor aufgestellt. Den Beginn leitete eine Festfanfare ein, die Richard Strauss eigens komponiert hatte, den Text hatte der damals bereits 80-jährige, deutschnational gesinnte Priesterdichter Otto Kernstock verfasst.

Es folgte eine Schubert-Huldigung, ehe sich der Festzug vom Rathausplatz aus in Bewegung setzte. Unter den zahlreichen Festwägen fiel der des Deutschen Sängerbundes, mit einer Weltkugel samt Adler, besonders auf. Ungezählte Gruppen an Deutschen und Auslandsdeutschen folgten und wurden bejubelt, sie "wurden längs des Weges mit brausenden Heil- und Zurufen begrüßt". Als Antwort erklang aus den deutschen Kehlen ein "Heil Wien!".

170.000 Sänger

Doch auch die heimischen Sängergruppen präsentierten sich, seien es der legendäre Männergesangsverein, der Schubertbund oder die zahlreichen Gruppen aus der Provinz, die in Tracht gekommen waren. 170.000 Sänger von 9000 Vereinen mit 7000 Fahnen nahmen am Festzug teil. Die letzten Sänger zogen um fünf Uhr nachmittags an der Festtribüne vorbei. Zwischenfälle gab es keine, in 700 Fällen aber musste die Rettungsgesellschaft eingreifen; meist waren es Erschöpfungserscheinungen, die es zu behandeln galt. "Mit einigen Hoffmannstropfen oder einem Schluck Kognak war in den meisten Fällen das Unwohlsein behoben."

Das "Neue Wiener Journal" lehnte sich am 22. Juli auf seiner Titelseite weit aus dem Fenster. Dort stand geschrieben: "Begeistertes Bekenntnis zu Groß-Deutschland". Liest man weiter, würde man meinen, die Zeilen stammten aus dem Jahr 1938. "Gestern fand vor über hunderttausend Festgästen die große Anschlußkundgebung (sic!) in der Sängerhalle statt, die in ein begeistertes Bekenntnis zu Alldeutschland (sic!) ausklang."

Zitiert wurden auch die Worte des Präsidenten des Deutschen Sängerbundes, Friedrich List: "In unser aller Adern fließt deutsches Blut, unser Herz schlägt deutsch, unsere Gedanken kreisen nur um deutsches Wohl und Wehe (. . .). Wie sollte es da anders sein, als daß der heiße Wunsch in uns aufsteigt, um das deutsche Volk auch das äußere Band der Einheit zu schlingen, das geistige Großdeutschland, das wir mit geschaffen haben, auch nach außen als ein einiges Groß-Deutschland erstehen zu lassen."

In gleicher Vehemenz sprachen sich die Sozialdemokraten schon im Vorfeld gegen die Veranstaltung aus: "Dem nationalistischen Sängerfest muß die Arbeiterschaft entschieden ablehnend gegenüberstehen und muß erkennen, daß das Sängerbundesfest nichts anderes darstellt, als eine Heimwehrparade in Sängeruniform. Statt dem Stahlhelm den Federhut und statt der Handgranate die germanische Leier." ("Die Rote Fahne", 13. Juli 1928). Damit waren die Sozialdemokraten nicht alleine, auch bei ausländischen Medien stieß die Veranstaltung vielfach auf breite Ablehnung, wie etwa in Frankreich oder der Tschechoslowakei.

Thomas Hofmann, geboren 1964, ist Bibliothekar und Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt gab er im Löcker-Verlag das Buch "Altwiener Tiergeschichten" heraus.