Erdogans Referendum und Orbans Zuspitzungen offenbaren eine neue Herrschaftsform.
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Diesen Sonntag findet jenes Referendum statt, das über den Umbau der Türkei in ein Präsidialsystem entscheiden soll. Die erstaunlichste Frage stellt sich noch vor dem Ausgang: Warum überhaupt solch ein Referendum? Erdogan regiert schon jetzt mit einer unglaublichen Machtfülle. Wozu also ein "Nein" riskieren?
Nun, ein "Nein" ist gewissermaßen nicht vorgesehen. Wäre dies wirklich ein demokratischer Vorgang, hätte es einen tatsächlichen politischen Raum für ein "Nein" geben müssen. Vorher - indem auch der Opposition Öffentlichkeit zukommt. Nachher - indem ein "Nein" etwas verändert. Tatsächlich aber ist dieses Fragen kein demokratischer, sondern ein führungsdemokratischer Vorgang.
Führungsdemokratie meint jenes Demokratiegespenst, das nur mehr eine Fassade für eine autoritäre Herrschaft abgibt. Aber dieser Autoritarismus ist nicht einfach eine Diktatur: Es ist nicht eine Herrschaft durch Zwang, sondern vielmehr eine Herrschaft durch Zustimmung. Auch wenn Zwang eingesetzt werden mag, um diese Zustimmung herzustellen - etwa, indem man vor einem Referendum 150 Journalisten einsperrt. Aber diese Zustimmung braucht es für das zentrale Moment der Führungsdemokratie: dem innigen Verhältnis, der direkten Verbundenheit zwischen Volk und Führer, ohne institutionelle Umwege. In seinem Selbstverständnis ist Erdogan nicht einfach ein Berufspolitiker, sondern ein Mann mit einer Mission. Deshalb wäre ein Referendums-Nein kein "Nein". Denn ein solches ist nicht vorgesehen. Ob er ein "Nein" uminterpretiert (wie es etwa Viktor Orban, der andere Mann mit einer Mission, gemacht hat) oder nicht - in jedem Fall bedeutet ein "Nein" eines: weitermachen.
Warum also dann überhaupt ein Referendum? Weil es neben der Zustimmung noch das zweite zentrale Moment der Führungsdemokratie bedient: Der Wahlkampfmodus, der gesellschaftliche und politische Ausnahmezustand wird auf Dauer gestellt. Das erzeugt die permanente Mobilisierung der Gesellschaft, die die Führungsdemokratie braucht. Das Referendum hat - unabhängig von seinem Ausgang - diesen Zweck bereits erfüllt. Es hat die dafür notwendige Feindanordnung festgelegt. Diese lautet: Türkei gegen Europa.
Wobei das keine geographische Anordnung ist. Denn diese Frontstellung hat durchaus auch ein innereuropäisches Pendant, wie sich an Orbans Ungarn ersehen lässt. Dieses zeigt auch, dass wir es hier mit einem Modell zu tun haben. Denn bei allen Unterschieden zwischen Erdogan und Orban - das Grundmuster bleibt gleich.
Ob Erdogans muslimisch inspirierter Nationalismus oder Orbans christliche nationale Ideologie, der Mechanismus der Führungsdemokratie ist derselbe: Regieren kraft organisierter Zustimmung, also dem Kurzschluss zwischen Führer und Volk, und permanenter Ausnahmezustand. Und ob Erdogan seine Türken gegen den Westen und dessen Kreuzzüge in Stellung bringt oder Orban die christlichen Ungarn gegen die liberalen, linken EU-Nihilisten einschwört - in beiden Fällen lautet die Schlachtordnung: Wir gegen die EU. Anders gesagt: Die neue Demarkationslinie, ob sie nun von außen oder von innen gezogen wird, lautet: Führungsdemokratien gegen Europäische Union.