Zum Hauptinhalt springen

Fünf Jahre und kein bisschen weise

Von Kurt Bayer

Gastkommentare
Kurt Bayer ist Ökonom und war Board Director in Weltbank (Washington, D.C.) und EBRD (London) sowie Gruppenleiter im Finanzministerium. Er bloggt unter kurtbayer.wordpress.com.

Die Tiefe der Krise, die Exzesse der entfesselten Finanzindustrie und die institutionellen Schwächen der EU erfordern radikale Ansätze.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Am 15. September 2008 ließ die US-Regierung Lehman Brothers in Konkurs gehen. Dies löste eine globale Banken- und Kapitalismuskrise aus, die an die Weltwirtschaftskrise von 1928 erinnerte. Anfangs wurden riesige Konjunktur- und Bankenrettungspakete geschnürt, plötzlich waren wir alle Keynesianer.

Dieser Impetus versandete jedoch rasch, ab 2010 setzten sich die reaktionären Mainstreampolitiker wieder durch und setzten wieder auf Budgetsanierung und Schuldenabbau, um die allmächtigen Finanzmärkte zu beruhigen. Der kurze Aufschwung kehrte sich wieder um, Europa schlitterte in eine Doppelrezession: Steigerung der Arbeitslosenrate von 7 auf 11 Prozent, der Jugendarbeitslosigkeit auf 25 Prozent, in den Krisenländern auf mehr als 50 Prozent, Stagnation der Wirtschaftsleistung, tiefe Rezession in den Südländern, weiter steigende Staatsverschuldung.

Tausende Seiten an Bankenregulierung wurden erlassen, der Vorrang der Bankensanierung vor Wirtschaftsstimulierung quasi festgeschrieben, jedoch: Obwohl 2008/2009 alle Wirtschaftspolitiker grundlegende Änderungen des Wirtschaftssystems versprochen hatten, blieb die Dominanz der allmächtigen Finanzmärkte vor der Realwirtschaft ungebrochen. Keine Rede davon, die Banken an die Kandare zu nehmen und die Finanzwirtschaft wieder auf ihre angestammte Rolle als Dienerin der Realwirtschaft zu reduzieren. Nicht einmal die systemimmanenten Reformen, gebündelt im Schlagwort "Bankenunion", haben Aussicht auf baldige Umsetzung. Zwar haben sich die EU-Finanzminister nunmehr auf die gemeinsame Aufsicht der "systemischen" Banken ab 2014 geeinigt, die essenziellen Bausteine "gemeinsamer Abwicklungsfonds" und "gemeinsame Einlagensicherung" blockieren vor allem die wirtschaftsstärkeren Ländern. Ohne diese droht aber die nächste Krise, da Europas Bankensektor noch praktisch unreformiert ist: Weil jedes Land seine eigenen Banken rettet, statt jene, die nicht notwendig sind, untergehen zu lassen, bleibt der Finanzsektor fragil und lahmt die Wirtschaft.

Es ist nicht nur Dilettantismus der Wirtschaftspolitik, der dafür verantwortlich ist. Es sind auch der wiedererstarkte Nationalismus und die sehr rasch wieder erstarkte Lobbyismuskraft der Finanzakteure, die rücksichtslos ihr "business as usual" wieder aufnehmen und die Politik vor sich hertreiben. All das wird befeuert von den massiven Liquiditätsspritzen der Notenbanken, die versuchen, durch Flutung der Märkte mit billigem Geld die Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen, stattdessen aber neue Immobilien- und Aktienblasen generieren.

Die EU ist gefangen im Korsett der Europäischen Verträge und traut sich nicht, außerhalb dieser Beschränkung zu denken. Jedoch: Die Tiefe der Krise, die Exzesse der entfesselten Finanzindustrie, die institutionellen Schwächen der EU und die Verschiebung der politischen Macht hin zu den Finanzmärkten erfordern radikale Ansätze. Ideen dazu gibt es zuhauf, Politik und Medien müssen sie zur Diskussion stellen. Die Zeit drängt, die Vertiefung der Krise lauert.