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Verhandler kommen bei Verkehrspolitik, Klimaschutz, Migration, Steuerentlastung und EU-Reform nicht voran.
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Berlin/Wien. Mehr als sieben Wochen sind seit der Bundestagswahl in Deutschland verstrichen. Zwei Schritte nach vorne, einen zurück. Oder umgekehrt, je nach Themenfeld. So gestalten sich die Sondierungsverhandlungen zwischen den vier Parteien CDU, CSU, FDP und Grüne für eine Jamaika-Koalition. Am Mittwoch berieten die Parteivorsitzenden über Europa, Migration, Finanzen, Energie und Migration. Für Donnerstag - in der Praxis wohl in der Nacht zum Freitag - ist ein Papier angekündigt, das als Grundlage für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen dienen soll.
"Es wird immer klarer, Jamaika wird keine Lustreise. Und einige Expeditionsteilnehmer haben den Kompass noch nicht richtig eingestellt", schimpfte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer am Mittwoch. War es in der ersten Phase der Sondierungen die FDP, die ihre Unlust an Jamaika demonstrativ zur Schau gestellt hatte, so spielen mittlerweile die bayerischen Christsozialen diesen Part. Hauptakteur neben Scheuer ist dabei der CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, Alexander Dobrindt. Er raunte über "Schwachsinnsthemen" bei den Grünen, zwischen dem Verkehrsminister unter Schwarz-Rot und seinem Verhandlungsgegenüber bei der Öko-Partei, Anton Hofreiter, soll es neben inhaltlichen auch persönliche Differenzen geben.
Zwar räumten die Grünen ihre Wahlkampfforderung, ab 2030 dürften in Deutschland keine Autos mit Verbrennungsmotoren zugelassen werden. Das grundsätzliche Aus für Diesel und Benziner bleibt aber aufrecht. Um den CO2-Ausstoß der Fahrzeuge zu reduzieren - Stichwort Dieselskandal -, wollen die Grünen nicht nur Software-Updates, welche die Autohersteller in Dobrindts Amtsperiode für Verbraucher kostenlos durchführen mussten. Sondern Grünen-Chef Cem Özdemir fordert auch bauliche Umrüstungen; sie würden die Autobauer deutlich teurer kommen. Das wiederum schmeckt der CSU nicht, schließlich residieren mit BMW und Audi gleich zwei von ihnen im Freistaat. Und die von den Grünen geforderte höhere Besteuerung von Diesel ist für die CSU ein Griff "aus der Mottenkiste".
Ausstieg aus Kohlekraft?
Beim mit der Verkehrspolitik eng verzahnten Umweltthema tun sich ebenfalls Abgründe zwischen CSU und Grünen auf. Die Wirtschaft dürfe nicht zusätzlich belastet werden, betonen die Bayern. Dagegen stilisiert die Grüne Katrin Göring-Eckardt die Klimapolitik zur "Überlebensfrage der Menschheit". Aber auch die FDP stellt sich hier gegen die Grünen. Zwischendurch hieß es, die konservative Union und die Liberalen hätten den Grünen die Schließung von zehn Kohlekraftwerken angeboten - im Wahlkampf forderte die Öko-Partei das sofortige Ende der 20 schmutzigsten Meiler.
Tatsächlich bieten Schwarz und Gelb an, die Stromproduktion in Kohlekraftwerken um bis zu fünf Gigawatt zu reduzieren. Die Grünen wollen acht bis zehn Gigawatt weniger, damit Deutschland 90 bis 120 Millionen Tonnen Kohlenstoffdioxid-Ausstoß einspart. Eine derartige Reduktion sei notwendig, damit Deutschland sein selbst gestecktes Klimaziel erreicht, die Treibhausgase bis 2020 um 40 Prozent im Vergleich zu 1990 zu reduzieren.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte während der Verhandlungen einen schnelleren Ausstieg aus der Kohlekraft angedeutet, jedoch einen solchen bis Mittwochabend nicht dezidiert verkündet. Man wisse, dass in einem Land, das noch stark auf Kohle setze, gerade die Braunkohle einen wesentlichen Beitrag leisten müsse, sagte die CDU-Vorsitzende am Mittwoch bei der Weltklimakonferenz in Bonn. Frankreich lege bis 2021 alle seine Kohlekraftwerke still, kündigte indes Präsident Emmanuel Macron an.
In den Sondierungsgesprächen gibt es Fortschritte beim Streit über Asyl und Flüchtlinge. Die Grünen akzeptieren laut einem der Nachrichtenagentur Reuters vorliegenden Sondierungspapier mit Stand von Dienstagnacht, dass die Verfahren für alle Asylsuchenden in Aufnahme- und Entscheidungszentren in Deutschland durchgeführt werden sollen. Strittig ist in dem zehnseitigen Papier aber, ob abgelehnte Asylbewerber von dort aus auch wieder in ihre Heimat zurückgeführt werden, wie dies die Union fordert. Dies lehnen die Grünen ab. Sie wollen die Entwicklungshilfe dauerhaft auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts festschreiben; 2016 wurde dieser Wert erstmals erzielt. Laut CDU/CSU ergäben sich daraus 36,5 Milliarden Euro zusätzliche Kosten in den kommenden vier Jahren.
Keine Einigung konnten CDU, CSU, FDP und Grüne bisher über einen Richtwerte bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Gründen erzielen. Die Union beharrt auf einer Netto-Aufnahme aus humanitären Gründen von maximal 200.000 Menschen jährlich. Die FDP will einen Korridor von 150.000 bis 250.000. Die Grünen lehnen dies ab. Strittig ist auch, ob der Familiennachzug für Flüchtlinge mit begrenztem Schutzstatus über März 2018 hinaus beschränkt bleibt, wie es die Union fordert.
Was mit den hohen Steuereinnahmen passiert, haben die vier Parteien auch noch nicht festgelegt. Um 30 Milliarden Euro könnten die Bürger entlastet werden, die FDP sieht gar "mindestens 40 Milliarden Euro" Potenzial. Sie musste allerdings ihr Leuchtturmprojekt entsorgen, den Solidaritätszuschlag für den Osten der Republik ab 2019 aufzuheben.
Hilfe für ärmere Familien
Auch die Abschaffung des Euro-Rettungsmechanismus ESM können die Liberalen nicht durchsetzen. Dafür flog die Weiterentwicklung des Euro-Rettungsschirms zum Währungsfonds aus dem Sondierungspapier; das Thema wurde auf mögliche Koalitionsverhandlungen verschoben. Was aus Macrons Idee nach einem eigenen Eurozonen-Budget wird, steht ebenfalls in den Sternen. Merkel will die deutsch-französischen Beziehungen stärken und wird möglicherweise an dieser Stelle ein Machtwort sprechen.
Einig wurden die Jamaika-Sondierer offenbar über den Kinderzuschlag. Damit wollen sie vor allem ärmeren Familien stärker unter die Arme greifen, heißt es in dem Reuters vorliegenden Sondierungspapier.