Vor dem Pariser Klimagipfel liefert ein Bericht erschreckende Ergebnisse zum Zustand der Meere.
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Der Strand von Vasilikos mündet sachte ins Meer. Kinder spielen mit Schwimmtieren und Erwachsene unterhalten sich im Wasser. Andere schwimmen so weit hinaus, dass sie zu Punkten am Horizont werden. Wieder andere, mit Sonnenhüten, schlendern im Sand. Die Besitzer kleiner Tavernen servieren Moussaka mit Salat, Schafskäse und Bier. Vom Massentourismus wurde der Ort vergessen. Nichts stört die Idylle - bis auf die Plastikteilchen im Sand. Eine feine Linie winziger Reste von Schraubverschlüssen säumt den Strand auf der griechischen Insel Zakynthos in Rot, Gelb, Grün und Blau.
Fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt an oder in der Nähe von Küsten. Und ein Großteil der andere Hälfte sehnt sich nach dem Meer und danach, seine Wellen mit beiden Armen zu teilen. Wenn die Sonne im Wasser untergeht und das Rauschen der See die Seele beruhigt, treten die Sorgen in den Hintergrund. "La mer, c’est mon coeur", singt der französische Chansonnier Charles Trenot: Das Meer ist mein Herz.
Dennoch lassen wir zu, dass der Meeresspiegel steigt und Küstengebiete versinken. Wir überfischen die Ozeane und müllen die Strände derart mit Plastik zu, dass Millionen von Tonnen davon ins Wasser gelangen und dort die Fische, die wir essen, vergiften. Was um alles in der Welt läuft hier schief? Warum scheren wir uns einen Dreck um das, was wir lieben?
"Heilige Kuh" Fischerei
Der Meeresökologe Nikolaus Gelpke, Herausgeber des deutschen Magazins "mare", hat eine erschreckend klare Erklärung. "Der Schutz der Meere bringt keine Wählerstimmen. Vielen Mitgliedern des EU-Parlaments ist völlig klar, dass es beim Meeresschutz fünf vor zwölf ist. Doch sie können nicht mit der Unterstützung aller EU-Länder rechnen, Lobbyisten funken dazwischen", sagt Gelpke zur "Wiener Zeitung. Die Gründe dafür seien durchaus komplex. So sei etwa die Fischerei für Länder wie Frankreich, Portugal oder Spanien eine Frage der historisch-nationalen Identität. "Um die Quoten so drastisch zu senken, wie es notwendig wäre, müsste man dort eine heilige Kuh schlachten. Das wäre so, als würde man der Auto-Nation Deutschland eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf den Autobahnen auferlegen, man würde die Wahlen verlieren", so Gelpke.
Dabei ist die Lage der Meere derart im Argen, dass dessen Erholung Jahrzehnte dauern wird, selbst wenn die Menschheit sofort das Ruder herumreißt. In der von Gelpke herausgegebenen "World Ocean Review" haben 40 Wissenschafter des Exzellenzclusters "Ozean der Zukunft" in Kiel zahlreiche Studien aus Klima- und Meeresforschung zusammengefasst. Ähnlich wie der Weltklimabericht IPCC sollen die Erkenntnisse des "World Ocean Review 2015" Grundlagen für einen nachhaltigen Meeresschutz liefern. Der von einer gemeinnützigen Stiftung finanzierte Bericht wurde im Vorfeld des Klimagipfels in Paris der deutschen Politik und dem EU-Parlament präsentiert. Die Ergebnisse zeigen, wie sehr der Mensch in die Meereswelt eingreift, ohne die Folgen zu kennen.
Im Gegensatz zu den Worten über erneuerbare Energien nimmt der reale Verbrauch von Erdöl, Erdgas und Kohle zu. Ein Drittel des Erdöls wird im Meer gefördert. Dabei dringt die Mineralölindustrie bis in die tiefsten Tiefen vor: Zehn Prozent des Erdöls werden aus 400 bis 1500 Tiefenmetern emporgezogen.
Ab 2016 sollen auch Erze aus dem Meer geholt werden, ebenso wie Manganknollen und Kobaltkrusten. Für den Bergbau im Meer werden bereits erste Unterwasserfahrzeuge gebaut.
Kein Transportmittel schafft so viele Güter um den Globus wie das Schiff. Erdöl, Erze und Getreide werden in Handelsschiffen, elektronische Geräte, Kleidung, Kaffee und Lebensmittel in Containern von Kontinent zu Kontinent transportiert. Seit Mitte der 1980er Jahre steigt die Gütermenge - von 3,3 Milliarden Tonnen 1985 auf 9,6 Milliarden Tonnen 2013 - und damit die Schadstoff-Konzentration in den Weltmeeren.
Die Ozeane regulieren das Klima - etwa indem der Golfstrom Wärme nach Europa bringt. Täglich nehmen die Weltmeere so viel Kohlendioxid (CO2) auf, wie vier Millionen Mittelklassewagen wiegen. Da Kohlendioxid ein säurehaltiges Gas ist, führen steigende Mengen zu einer Versauerung der Ozeane. Der veränderte pH-Wert (Säure-Basen-Haushalt) im Wasser löst die Kalkschalen vieler Organismen auf. Die Evolution hat ihre Schutzmäntel auf den pH-Wert der Jahrmillionen eingestellt, saurem Wasser halten sie nicht stand und die Organismen verschwinden. Sie fehlen anderen Meeresbewohnern als Nahrung und diese wiederum Menschen als Proteinquelle. "Abgesehen davon, dass wir kein Recht haben, Ökosysteme zu verändern, ist das so, als würden wir alle Bienen umbringen. Dann gäbe es keine Bestäuber und kein Obst", sagt Gelpke.
Die Kieler Forscher haben zudem herausgefunden, dass Übersäuerung und Erderwärmung einander sogar verstärken. Die Auswirkungen dieser dramatischen Wechselwirkung würden das Ökosystem Meer, das einen Großteil der Erdoberfläche bedeckt, auf nicht absehbare Weise verändern. Dass Plastikmüll vom Land und vom Schiffsverkehr in die Meere gelangt - zur Menge gibt es nur Schätzungen, die US-Akademie der Wissenschaften ging aber bereits 1997 von 6,4 Millionen Tonnen aus -, sei im Vergleich dazu ein geringes Problem.
Tödlicher CO2-Anstieg
"Plastiksäcke am Strand und schwimmende PET-Flaschen sind sehr gut sichtbar. Sie sind igitt und medial darstellbar, aber man kann sie wegräumen. Auch der Anstieg des Meeresspiegels ist schauerhaft, aber er passiert langsam und wir können reagieren, etwa indem wir Menschen übersiedeln", sagt der Meeresforscher. Er bezeichnet Probleme dieser Art als die "Schnittwunden" mariner Ökosysteme. Der CO2-Anstieg sei dagegen wie Krebs: "Die wirklich schweren Krankheiten sieht man nicht. Aber sie verlaufen tödlich." Starkregen, Wirbelstürme und Dürren fordern Menschenleben und Lebensraum. Was aber im Meer vorgeht, bemerken höchstens ein paar Forschungsboote und Fischer, die ihre Fanggebiete verlieren oder verlagern. Der Rest macht sich über das Allgemeingut Meer wenig Gedanken.
Ähnlich wie viele Menschen nur im eigenen Garten kehren, haben die Staaten nur Handhabe in ihren Hoheitsgewässern. Um übernationale Meeresgebiete zu schützen, müssten viele Nationen gemeinsam an einem Strang ziehen. Es gibt an die 600 multinationale Abkommen zur Nutzung küstennaher Gewässer, doch die Hohe See ist ein Gebiet vieler Freiheiten. Seine Nutzung steht laut internationalem Seerecht allen Staaten offen. Keine Instanz kann internationales Meeresgebiet oder nur einen Teil davon vom Boden bis zur Oberfläche unter Schutz stellen.
Gerade deswegen drängt die Zeit. "Wir müssen sofort die CO2-Produktion herunterfahren. Das Meer ist wie ein schwerer Tanker, der ab einem gewissen Punkt nicht mehr umdrehen kann. Wenn wir die von Forschern empfohlenen Ziele weiterhin nicht befolgen, bricht das Meer zusammen. Was dann an Land passiert, ist nicht abzusehen", sagt Gelpke. Erst seit der Reaktorkatastrophe von Fukushima setzt Deutschland nicht mehr auf Atomstrom. Ob klimarelevante Warnungen wie diese zum Meer erst nach einem weiteren Desaster gehört werden, bleibt abzuwarten.