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Funktionierer an der Macht

Von Alexandra Zawia

Politik

Regisseur Erwin Wagenhofer im Gespräch über seine neue Doku.


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Erwin Wagenhofer und die Autorin dieser Zeilen haben - mit einem Abstand von circa 20 Jahren - an derselben Schule maturiert. Sie hatten dieselbe Deutschlehrerin, die zum Beispiel ihm sagte: "Wie du deine Geschichten erzählst, ist so gut, da sollen die paar Rechtschreibfehler die Note nicht verderben." Beide haben danach unter anderem auch Lehrtätigkeiten ausgeübt, und beide kritisieren am Schulsystem den Normierungsauftrag, unmittelbar messbare Erfolge zu produzieren.

"98 Prozent aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt", stellt Wagenhofer in seinem neuen Film "Alphabet" nicht nur die (wissenschaftlich errechnete) These auf, sondern formuliert damit den dringenden Appell, das aktuelle Bildungssystem nicht nur zu überdenken, sondern tatsächlich zu sprengen. Er schließt damit seine "Trilogie der Erschöpfung" ab, nachdem er in "We Feed The World" den rücksichtslosen Mechanismen der Nahrungsmittelindustrie und in "Let’s Make Money" der Fatalität kapitalistischer Intrigen nachgespürt hatte.

Als aktivistischer Filmemacher sieht Wagenhofer sich nicht, aber als einer "mit Haltung". Die gelte es auch umzusetzen. "Ganz klar steuern wir auf einen Kollaps zu", sagt Wagenhofer im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Oder woher, glauben Sie, kommen all die Krisen?"

"Wiener Zeitung": Ich habe eine Ahnung, aber was meinen Sie?Erwin Wagenhofer: Das Grundproblem ist, dass der Mensch an sich nichts mehr wert ist, sondern wirklich nur noch das, was er leistet. Das ganze Leben eines Menschen wird von Anfang an gemessen und verzweckt. Wo nur der Output zählt, gibt es längst keinen wertvollen Input mehr. Alles brennt aus.

Könnte das "A" im Titel Ihres Films "Alphabet" für "Angst" stehen?

Auch. Aber erinnern wir uns, dass die allgemeine Alphabetisierung, die mit der Einführung der Schulpflicht einherging, prinzipiell keine schlechte Sache war. Was aber schnell passierte, war, dass junge Menschen industriell und ideologisch geformt wurden. Natürlich hat man zum Beispiel im Dritten Reich darauf geachtet, hörige und befehlsgetreue Menschen heranzuziehen, wie in jeder Diktatur. Das Bildungssystem als Abschluss für diese Trilogie ist aber auch eine logische Folge der Ursachenforschung, denn zum Beispiel gerade die von der Finanzwirtschaft ausgelöste Krise wurde ja von den Hochgebildeten verursacht.

Kein System funktioniert ohne Druck, also auch das Bildungssystem nicht. Welche Alternativen gibt es Ihrer Meinung nach?

Arno Stern und seine Frau, die ich für den Film an seinem "Malort" besucht habe, leben es vor: Ihr Sohn war nie auf einer Schule, sie haben ihn aber auch zuhause nicht "verschult", also nach einem externen Lehrplan unterrichtet und ihn dann zu Prüfungen geschickt. Er musste in seinem Leben niemals Prüfungen machen, und das hat ihn viel verantwortungsbewusster und strukturierter wachsen lassen als Kinder, die in so ein System hineingezwungen werden. Denn was lernen die denn vor allem? Wie sie sich am besten vor etwas drücken. Und irgendwann sehen sie, sie müssen Geld verdienen, und dann ist ihnen fast jedes Mittel recht.

Sie formulieren das jetzt sehr überspitzt...

Klar, man muss ja einmal auf den Tisch hauen, damit jemand zuhört. (lacht)

Ihr Film liefert einige erschreckende Erkenntnisse, unter anderem zeigen Sie Belege dafür, wie im Alter von vier Jahren, also nach dem Eintritt in den Kindergarten, bereits ein großer Prozentsatz der Begabungen eines Kindes verkümmert ist...

Neugeborene bringen alles Mögliche an diversen Begabungen mit. Dann aber kommen Kindergarten, Schule und Gesellschaft ins Spiel, alles normative Systeme, die nicht auf Beziehung, sondern auf Bewertung setzen. Sie erkennen beziehungsweise achten die Begabungen nicht, und bis auf zwei Prozent aller Kinder "verlieren" sie ihre Begabungen also. Sehen wir uns diesen Satz rein vom linguistischen Standpunkt her an, wird allein hier schon klar: ohne Gabe kein Geben. So ein System produziert nur normierte, gleichgeschaltete Funktionierer.

Wäre dann eine "Gesellschaft ohne Schule" also die bessere Alternative?

Schule an sich muss nicht schlecht sein, es kommt nur darauf an, wie sie verstanden wird. Auf die Haltung der Lehrenden sozusagen, und damit meine ich ausdrücklich Lehrende, die selbst nicht aus einem normierten Betrieb stammen. Ich befürworte aber zum Beispiel Modelle wie die Montessori-Schule nicht. Die "verbrechen" dieselben Fehler, nur tun sie so, als wäre das in Ordnung.

Arno Stern sagt im Film: "Die Menschen sind am Leben und wissen nicht, warum."

Genau darum geht es: Was denken Sie: Wie viele Menschen, wären wohl lieber Gärtner als Anwälte? Aber wir befinden uns in einer Situation, in der die Wirtschaft nicht mehr für den Menschen da ist, sondern der Mensch für die Wirtschaft. Die Fragen sind: Wie können wir das umkehren? Und wann fangen wir damit an?

In einer der Assessment-Center-Runden bei McKinsey in Ihrem Film sagt eine Frau über ihre Familienplanung: Das kann ich so nicht machen, denn dann bin ich mit 40 kein CEO.

Sie ist Teil einer Angstgesellschaft.

Diese Teilnehmer wirken kalt und ohne jegliche eigene Meinung.

Wie von Angst betriebene Maschinen. Unsere Gesellschaft droht ja nur: "Wenn du dieses und jenes nicht machst, wirst du das nicht erreichen, keine Frau kriegen", und so weiter. Aber das stimmt gar nicht, und dagegen wehre ich mich. In meiner ganzen Arbeit wehre ich mich eigentlich, und ich hoffe, ich kann ein paar Menschen damit mitziehen.

Bildungsexperte Sir Ken Robinson spricht in Ihrem Film von unangepasstem Denken als Vorstufe zur Kreativität. Kann das in unserem System funktionieren?

Die Lehrer wissen das ja. Sie haben aber einen Lehrplan, den sie unbedingt durchbringen müssen. Das ist ihr großes Drama. Es gibt wahnsinnig viele engagierte Lehrer. Und es gibt wahnsinnig viele Lehrer mit Burn-out. Und das kriegst du, wenn du lange Zeit gegen deine innere Überzeugung arbeitest.

Haben Ihre eigenen Kinder konventionelle Schulen besucht?

Ja, ganz normal. Ich habe nichts besser gemacht, sondern die Erfahrungen, die andere Eltern auch haben.

Könnten wir sagen, das primäre Bildungsziel sollte jetzt einmal das Befreien von Angst sein?

Natürlich! Was kann einer Gesellschaft Besseres passieren, als frei denkende Individuen zu vereinen, die sich den Luxus einer eigenen Meinung leisten? - Achtung, bei irgendjemandem, der das liest, schrillen jetzt bestimmt die Alarmglocken, und er fragt sich: Wie will man die denn kontrollieren?

Im Film sagt der chinesische Pädagoge Yang Dongping, Chinas Schüler würden am Start gewinnen, aber im Ziel verlieren.

China wird uns jetzt als Aufsteiger vorgehalten, in den Achtzigerjahren waren das die Japaner. Es wird uns durch die Pisa-Tests vorgegaukelt, die Chinesen wären die Besten der Welt. Dabei interessiert die Chinesen dieser Test überhaupt nicht. Shanghai hat 35 Millionen Einwohner - getestet wird in 68 Schulen. Das ist bloß ein minimales Sample, der dazu da ist, um den europäischen und auch ein bisserl den amerikanischen Kindern Angst zu machen. Das Ergebnis: In China ist der Suizid die höchste Sterblichkeitsrate unter Jugendlichen, Hochbegabte werden dort zu Fachidioten. Und die kriegen die "Top-Jobs", auf dass sie das System weitertragen.

Sie können jetzt noch einmal einen Schlachtruf formulieren.

Wir sind das Problem, und wir sind die Lösung. Also, gemma, tun wir was dagegen!