Drill bringt Erfolge wie beim Pisa-Test, | die Schüler zahlen einen hohen Preis.
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Shanghai. So sehen also Sieger aus: 42 Kinder in blauen Trainingsanzügen und mit roten Halstüchern, in perfekter Symmetrie angeordnet an kleinen Tischchen, die konzentriert auf eine Leinwand starren. Englisch steht auf dem Programm, nicht unbedingt die ausgewiesene Stärke der Kids, aber immerhin lernen sie gerade sinnstiftende Sätze wie "In Amerika essen die Menschen Hamburger" oder "Sie ist seit zwei Jahren Parteimitglied." Begonnen hat der Tag für die meisten der 1500 Internatsschüler an der Yu Cai Highschool in Shanghai mit dem Weckruf um sechs Uhr morgens. Viele stehen noch früher auf, denn schon eine halbe Stunde später startet der Morgensport mit dem 800-Meter-Lauf. Danach Antreten auf dem Sportplatz in schnurgeraden Reihen zum Fahnenappell, die Hymne wird gesungen, bevor es zum Unterricht geht, der bis in den späten Nachmittag hinein dauern wird.
"Schon in der ersten Klasse bekommen die Neulinge ein militärisches Training. Das ist wichtig, damit sie Stärke und Disziplin erlangen", erklärt Direktorin Chen Qingyun. Nicht nur das: Auch Sport spielt eine große Rolle, seitdem die Regierung 2007 dem zunehmenden Übergewicht bei Kindern den Kampf angesagt hat. Und während aus den Lautsprechern klassische Musik tönt, formieren sich die Schüler im Hof und joggen in Kolonnen über das riesige Areal. Ausruhen können sie sich nach Schulschluss nicht, denn dann stehen Hausaufgaben auf dem Programm; die meisten strebern bis zur Nachtruhe um halb zehn Uhr. Länger geht’s nicht, denn um zehn gehen die Lichter aus.
Beim Rundgang erinnert das Haupthaus ein wenig an die in China üblichen Parteipaläste, uniformierte Sicherheitskräfte bewachen den Eingang und es ist so sauber, dass nicht das kleinste Papierstück auf dem Boden liegt. Kein Wunder, immerhin gibt es selbst bei den Putzplänen einen harten Wettbewerb unter den Schülern, die Sauberkeit der Schlafräume wird beispielsweise mit einem 100-Punkte-System bewertet. Auch für "herausragende Disziplin beim Mittagessen" werden Urkunden verliehen. Dementsprechend stapeln sich in den Vitrinen die Auszeichnungen für die Schule: Preise bei der Roboterolympiade, Medaillen bei Mathe-Meisterschaften, Pokale für Drama-Wettbewerbe. Nur die Ergebnisse der Pisa-Studie, über die die ganze Welt spricht, sind nirgendwo zu finden. "Ach mein Gott", zuckt Direktorin Chen mit den Schultern, "die Schüler haben jedes Jahr vier große Prüfungen und mindestens 30 kleine Tests zu bestehen. Die wichtigste ist natürlich die große Abschlussprüfung ‚Gaokao‘, auf die wir unsere ganzen Kräfte konzentrieren müssen, damit wir unseren Schülern die Zulassung zu einer guten Universität ermöglichen. Diese Pisa-Sache, naja, die war halt einfach nicht so wichtig."
Kurse statt Ferien
Viel Understatement für ein Ergebnis, das in China durchaus mit Stolz aufgenommen wurde. Seitdem Shanghai 2009 zum ersten Mal am "Program for International Student Assessment" teilgenommen hat, räumten die ungefähr 6400 Schüler aus den 155 Schulen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaft stets den ersten Platz ab - mit Respektabstand. "Die Resultate waren wirklich ermutigend. Es ist schön zu sehen, dass unsere Schüler so toll abschneiden. Allerdings sollten wir auch daran denken, ob es wirklich notwendig ist, dass so viele Schüler so gut in Mathematik sind", kommentierte der Leiter des Pisa-Programms von Shanghai, Zhang Minxuan das Ergebnis.
Allerdings liegen die Shanghaier Jugendlichen auch in anderen Bereichen an der Spitze: Sie verbringen wöchentlich 13,8 Stunden mit Hausaufgaben, das ist die höchste Rate weltweit und liegt drei Mal über dem Schnitt von wöchentlich 4,9 Stunden. Eine Zahl, die selbst den eigenen Schulexperten zu denken gibt, wie Zhang anmerkt: "Wir haben herausgefunden, dass Schüler, die mehr als elf Stunden pro Woche mit Hausaufgaben verbringen, keine signifikanten Fortschritte gemacht haben - es hat vielmehr ihre Zeit verschlungen, in der sie auf anderen Gebieten Fortschritte machen könnten." Die Behörden versuchen mittlerweile, mit Hausaufgaben-freien Ferien und einer moderaten Stoffreduktion gegenzusteuern - doch oft sind es die Eltern, die den gewonnenen Freiraum sofort mit Zusatzkursen und Nachhilfe auffüllen.
Der Run auf die Eliteschulen
Denn der Druck ist da, und er lastet auf Eltern, Schülern und Lehrern gleichermaßen. Viele Bewerber kämpfen um Einlass in nur wenige Top-Schulen und Universitäten. Vom nationalen Schulexamen, der Gaokao, hängt die Karriere ab. Eltern treibt daher die ständige Furcht, ihre Kinder könnten im Konkurrenzkampf nicht mithalten, weshalb auch die Nachhilfe ein einträgliches Geschäft ist - im Schnitt geben Shanghaier Familien jährlich 3600 Euro für den Zusatzunterricht eines Oberschülers aus. Eine Untersuchung in Shanghai stellte 2011 erheblichen Schlafmangel bei Gymnasiasten fest, 74 Prozent aller High-School-Absolventen sind zudem stark kurzsichtig. Dem Klischee stumpf paukender Lernroboter werden sie allerdings auch nicht gerecht - so stellten sie etwa beim Lösen der Pisa-Aufgaben ein höheres Maß an Kreativität unter Beweis als ihre westlichen Kollegen und konnten ihr Wissen auch für neuartige Situationen anwenden.
Sehr viel Wert wird wiederum auf die Ausbildung der Lehrer gelegt, und auch bei ihnen gibt es einen ständigen Wettbewerb, wer seine Klasse oder Schule am meisten nach vorne bringt. Lehrkräfte steigen die vier Stufen der Karriereleiter zum "Masterteacher" nur dann nach oben, wenn sie auch in einer sehr schwierigen Schule erfolgreich unterrichtet haben.
"Üben macht schneller"
Dass sie ihre Schützlinge mit stupidem Auswendiglernen zum Erfolg drillen, weist Direktorin Chen zurück: "Das viele Üben macht die Kinder schneller und ermöglicht tieferes Verständnis. Deswegen war es ihnen auch möglich, die aus dem Leben gegriffenen Aufgaben der Pisa-Prüfungen in die Sprache der Mathematik zu übersetzen und so zu schnellen Lösungen zu kommen. Das funktioniert nicht, wenn man nur mathematische Theorien auswendig lernt", erklärt sie triumphierend.
Nur was beziehungsweise wo dieses Österreich sei, das wussten die jungen Pisa-Sieger auf Nachfrage nicht.