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Für die einen Kampf gegen Terror, für andere - Schikane

Von Martyna Czarnowska

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Festnahmen und Razzien erschweren die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen in der Türkei.


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Wenn Muharrem Erbey an seinem Schreibtisch sitzt, hat er die Dokumente parat. Doch nicht oft muss der Jurist mit dem akkurat sitzenden Anzug und dem graumelierten Haar zu den Papieren greifen. Viele Zahlen kennt er auswendig. Verletzungen der Menschenrechte im Osten und Südosten der Türkei im Jahr 2008? Fast 36.000. Von Soldaten, Polizisten oder bewaffneten Dorfwächtern getötete Zivilisten? 137 Menschen in den vergangenen drei Jahren. Mit Zahlen will der 40-Jährige unterlegen, dass sich die Menschenrechtslage in der Türkei in letzter Zeit nicht unbedingt verbessert hat.

Muharrem Erbey ist Vizepräsident der türkischen Menschenrechtsorganisation IHD und Vorsitzender der Sektion in der vor allem von Kurden bewohnten südostanatolischen Stadt Diyarbakir. Doch im Moment kann er weder in sein Büro noch an seine Unterlagen kommen. Denn er ist seit 25. Dezember in Haft. Die Dokumente hat die Polizei bei einer Razzia konfisziert.

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Auch mehrere Bürgermeister und etliche Abgeordnete der mittlerweile verbotenen prokurdischen Partei DTP sind in den vergangenen Wochen festgenommen worden. In einer groß angelegten Aktion in einigen Provinzen der Türkei ging die Polizei gegen mutmaßliche Mitglieder der Vereinigung Kurdischer Gemeinschaften (KCK) vor. Die gilt als politischer Flügel der PKK, der als Terrororganisation eingestuften Arbeiterpartei Kurdistans. Es vergeht noch immer kaum eine Woche, in der nicht bei Kämpfen zwischen der türkischen Armee und der PKK Menschen sterben.

Kurdische Politiker sehen die Verhaftungen aber nicht als Kampf gegen Terrorismus, sondern als politische Schikane an. Und nichtstaatliche Vereine wie IHD klagen, dass sie in ihrer Arbeit massiv behindert werden.

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Die Menschenrechtslage in der heutigen Türkei lässt sich mit der noch vor 15 Jahren nicht vergleichen, als hunderttausende Kurden aus ihren Dörfern vertrieben und Aktivisten ermordet wurden. Doch noch immer mahnt die Europäische Union, der das Land beitreten möchte, regelmäßig die Stärkung von Menschen- und Minderheitenrechten ein. Diese Forderung haben bei IHD allein 23 Menschen mit ihrem Leben bezahlt; die meisten wurden in den frühen 90er Jahren umgebracht.

Dies müssten sie mittlerweile nicht mehr fürchten, sagt ein Freiwilliger aus Diyarbakir. Doch es gebe noch immer Repressionen, und seien sie etwa juristischer Natur. "Es herrscht das Gefühl vor, dass jeder verhaftet werden kann - und das jederzeit."

Erbey ist um fünf Uhr Früh in seinem Haus festgenommen worden. In seiner Verteidigungsschrift verweist er auf zahlreiche Kontakte im In- und Ausland. Er wurde zu Vorträgen in europäischen Städten eingeladen, hat Interviews gegeben. Doch Verbindungen zur KCK habe er nicht. Alle Details der Vorwürfe gegen den Anwalt kennen auch seine Verteidiger nicht. Sie haben nicht vollen Zugang zu den Akten.

Erbey ist das zweite Vorstandsmitglied von IHD, das derzeit in Haft sitzt. Vor Monaten schon ist Filiz Kalayci festgenommen worden. Ihr wird "Unterstützung einer illegalen Organisation" vorgeworfen.

Der Prozess gegen Erbey ist noch nicht eröffnet worden. Vielleicht wird er es gar nicht. Es ist schon öfter vorgekommen, dass kurdische Aktivisten oder Politiker vor ihrer Freilassung nicht vor Gericht standen. Davor waren sie aber monatelang im Gefängnis.