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Für ein europäisches Gesellschaftsmodell

Von Egon Matzner und Lutz Unterseher

Europaarchiv

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Wohin driftet Europa? Dieser Frage kann sich die EU nicht auf Dauer entziehen. Die Ereignisse vor und nach dem Irak-Krieg, die Diskussionen im Konvent wie auch der Entwurf zu einer Europäischen Verfassung haben das Fehlen der Vorstellung über die zukünftige Entwicklung Europas deutlich gemacht. Eine solche Vorstellung ist als Orientierung der konkreten Politik unentbehrlich. Ihr Fehlen lähmt die Bemühungen, die Substanz der Politik zu verbessern. Das gilt für die gedeihliche Entwicklung der Wirtschaft und der sozialen Angelegenheiten ebenso wie für das internationale Ansehen und das militärische Gewicht Europas.

Ein höheres Maß an gemeinsamer Orientierung würde die Kohärenz der Politik in den intergovernmentalen Gremien fördern, wie es auch die Arbeit der Kommission und des Parlamentes zusätzlich anregen würde. Eine Vision von der Zukunft Europas könnte der EU ein Profil geben und damit die Wahrnehmung ihres politischen Wollens in den Mitgliedsländern wie auch in der Welt fördern. Den Europa-Aktivisten aller Länder würde es die Möglichkeit geben, europäische Loyalität in Worten und Taten zu zeigen. Nicht zuletzt sollte diese Vision dem Wollen der überwiegenden Mehrheit der BürgerInnen in der EU Ausdruck verleihen. Was sollte die Substanz einer Vision gemeinsamen europäischen Wollens bilden? Es ginge dabei vor allem darum, die Position Europas in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu bestimmen.

Zu Frieden und Krieg

Jeder erfolgversprechende Versuch, zu einer Vorstellung von der Zukunft Europas zu gelangen, die breite Zustimmung finden kann, bedarf der expliziten Begründung in gemeinsamen Werten und Grundsätzen, wie sie in der neuen Europäischen Verfassung auch postuliert werden. Dieses Fundament besteht aus den reichen historischen Erfahrungen, aus dem Bewusstsein von Aufklärung und Fortschritt wie auch aus der Erinnerung an Zivilisationsbrüche und Rückfälle in die Barbarei.

Vor diesem Hintergrund sollte die wesentliche Wertorientierung sich auf die Verhinderung von Kriegen und die allseitige Förderung von Kooperation, innerhalb der EU und in deren Beziehungen mit der Welt, richten. Um dahin zu gelangen, ist eine durch entsprechende Reform zu stärkende UNO ebenso erforderlich wie die Achtung des internationalen Rechts, durch dessen Herrschaft die nichtmilitärische Bewältigung von Konflikten erst möglich wird. Dies sollte zur alles überragenden europäischen Aufgabe im 21.Jahrhundert werden.

Eine europäische Außenpolitik, die sich in den Dienst dieser Aufgabe stellt, muss auf Aufklärung, wechselseitiges Lernen, auf Diplomatie, Konfliktverhütung und -bewältigung mit nichtmilitärischen Mitteln, vor allem auf die Schaffung von Situationen bauen, deren inhärente Logik (im Sinne Karl Poppers), die zu Kooperation anregt. Offenheit gegenüber allen Ländern, seien diese benachbart oder in weiter Ferne, würde aus einer solchen Orientierung folgen.

Das wichtigste Thema der Außen- und Sicherheitspolitik betrifft die Entscheidung über Krieg und Frieden. Da durch einen Kriegseintritt alle Mitgliedsländer betroffen werden, muss eine solche Entscheidung prinzipiell von jedem einzelnen Mitgliedsland mitgetragen werden; sie ist der Einstimmigkeitsregel zu unterwerfen. Die Verletzung dieses Prinzips muss geahndet werden, im äußersten Fall durch Ausschluss aus der Union.

Eine europäische Sicherheitspolitik hat, dies folgt aus der kooperativen Außenpolitik, auf jeden Versuch zu verzichten, der gegenwärtigen US-Politik der Hochrüstung und Ultra-Sicherheit (die vor der Einschränkung der Herrschaft des Rechts und der demokratischen Grundrechte nicht zurückschreckt) zu folgen oder sie gar zu kopieren. Europäische Sicherheitspolitik sollte sich auf die Aufstellung und den Unterhalt von Instrumenten der Konfliktverhütung (sprachkundige und sozialsensible Berater, Richter, Polizisten) konzentrieren. Hinzu käme eine hochwertige rasche Einsatztruppe zur Bekämpfung humanitärer, ethnischer, ökologischer und sonstiger Krisen. Solch eine Einsatztruppe ist als ein effektives Instrument für den äußersten Fall, in dem die nichtmilitärischen Mittel nicht greifen, zu konzipieren.

Für ein stabilitätsorientiertes, nicht-provokatives Sicherheits- System der EU, das diese Bezeichnung verdient, reichen ca.1 Prozent des Bruttoinlandsprodukt der EU. Gegenwärtig werden für militärische Zwecke etwas weniger als 2 Prozent aufgewendet. Die eingesparten Mittel von rund 70 bis 80 Mill1arden Euro sollten in die die europäische Außen- und Enwicklungspolitik im Sinne der nichtmilitärischer Konfliktregelung, sowie zur Förderung der Kunst und Praxis der Kooperation investiert werden.

Der Entwurf der Europäischen Verfassung steht zur Vision eines kooperativen und defensiven Europa in teilweisem Widerspruch. So sieht er z.B. Missionen, insbesondere in Drittländern, in enger Zusammenarbeit mit der NATO vor. Dabei sollen lediglich die "Prinzipien" der UN Charta zu respektieren sein, nicht jedoch die exklusive Zuständigkeit des Sicherheitsrates für den legitimen Einsatz militärischer Gewalt. Das Recht auf Selbstverteidigung besteht gemäß Artikel 51 der UN Charta im Angriffsfall nur so lange, bis der Sicherheitsrat sein internationales Gewaltmonopols ausübt. Dies scheint der Verfassungsentwurf der EU geflissentlich zu ignorieren.

Zum Kern europäischer Wirtschaftspolitik

Für die Zukunft europäischer Wirtschaftspolitik können wichtige Lehren aus dem Beispiel der USA gezogen werden. So ist es den USA in den Regierungsjahren Präsident Clintons gelungen, ein expansionsfreundliches wirtschaftspolitisches Regime zu formen. Auch wenn der Erfolg durch die weitverbreitete "kreative Bilanzierung" virtueller Werte etwas geschönt wurde, haben die USA damals eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik ("Keynesianismus von oben", also unter Verzicht auf Umverteilung zugunsten der Ärmeren) betrieben. Dazu trugen die föderale, die einzelstaatliche und die lokale Ebene in gleicher Weise bei, was von europäischen Beobachtern zumeist übersehen wird. Vor allem hat sich in den USA eine Geld- und Budgetpolitik entwickelt, die sich auf eine enge Kooperation der Währungszentrale (FED)und der US- Administration gründet..

Aus bekannten institutionellen und politischen Gründen ist die EU ihrerseits noch immer ohne vergleichbare Ambitionen und Mittel. Das hat ernste Verluste zur Folge, die sich in Form von niedrigem Wachstum und hoher Arbeitslosigkeit sowie in den Schwierigkeiten bei der Finanzierung des Renten- und Gesundheitssystems niederschlägt. Dies alles bedingt die politische Schwächung Europas. Ein tiefgreifender Wandel, der im Kern ein Europäisches Gesellschaftsmodell zur Orientierung hat, ist deshalb dringend erforderlich. Zu diesem gehören:

Erstens, und vor allem, die Einrichtung eines geld- und fiskalpolitischen Managements, das gerüstet ist, weltwirtschaftliche Krisen zu bekämpfen, wie sie im Gefolge des Irak-Krieges oder als Folge von finanzieller Überexpansion auftreten können.

Zweitens müsste ein wachstumsförderliches wirtschaftspolitisches Regime Teil eines europäischen Entwicklungsmodells sein. Damit sollte das produktive Potenzial des "alten" wie des "neuen" Europa entfaltet und genutzt werden. Die monetären Restriktionskriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wären durch realwirtschaftliche Entwicklungskriterien zu ergänzen. Auf diese Weise könnten gleichzeitig die Expansion im Innern und der Austausch mit den Nachbarn der EU und der übrigen Welt deutlich stimuliert werden.

Des weiteren müsste eine solche europäische Wirtschaftspolitik auf globalen Regeln bestehen, welche die - komparativen - institutionellen und kulturellen Vorteile zumindest nicht schwächt. Solche Regeln würden sich im wesentlichen Punkten von jenen durch die USA mit weltweiter Geltung versehenen unterscheiden. Ebenso muss die EU damit aufhören, US-Regeln zu imitieren - ein Vorgehen, das man gängigerweise "Globalisierung" oder "Modernisierung" nennt.

Zum Kern europäischer Gesellschaftspolitik

Ein Europäisches Gesellschaftsmodell (EGM), das diesen Namen verdient, müsste von der alten Erkenntnis getragen sein, dass das "öffentliche Interesse" (der "öffentliche Zweck", die "öffentliche Aufgabe", wie auch immer genannt) eine notwendige Voraussetzung der Verfolgung des "privaten Interesses" (auch "Eigennutz" oder "Selbstsucht", wie auch immer benannt) ist. Dieser Gedanke war für Adam Smith und die anderen klassischen politischen Ökonomen Englands grundlegend. Dies ist auch jener Gedanke, der Europa traditionellerweise von den USA unterschieden hat. Das ist heute nicht mehr selbstverständlich, da nun die USA auch für die EU als Musterland ("benchmark model") gelten. An vier Beispielen lassen sich die traditionellen Unterschiede deutlich darstellen:

Beispiel 1: In Europa ist - als Erbe der feudalen Gesellschaft - die Idee des Privateigentums mit sozialer Verantwortung verbunden. Dies gilt nicht in den USA.

Beispiel 2: Die Völker und Kulturen Europas teilen die Idee eines nichtkodifizierten, aber wirksamen Gesellschaftsvertrages, der alle Bürgern ein Leben sichert. Dies gilt nicht in den USA, wo man lieber auf individuelle Barmherzigkeit (Präsident Bushs "compassionate conservatism") setzt.

Beispiel 3: In ganz Europa gibt es eine ziemlich großzügige Vorstellung von öffentlichem Raum. Das gilt nur in geringerem Maß für die USA.

Beispiel 4: In Europa wird der Staat von seinen Bürgern überwiegend positiv gesehen: als potenziell stützende Institution. In der alten und wiederbelebten Vorstellung in den USA gilt er als Gegner, wenn nicht als Feind des Bürgers.

Von der Öffentlichkeit bisher nicht beachtet zirkuliert ein EU-Kommissions-Dokument zum Europäischen Gesellschaftsmodell. Leider ignoriert dieses Green Paper on Services of General Interest die traditionellen Werte Europas. Zwar heißt es darin dass die EU institutionelle Vielfalt nicht nur zu-, sondern fördern lässt. Gleichzeitig jedoch sollen "öffentliche Institutionen" denselben Rechten und Pflichten unterworfen werden wie private Firmen. Das schließt tendenziell/zeitgeistig jegliche institutionelle Eigenart aus, die ja Ausdruck von gesellschaftlich wirksam gewordenen individuellen Präferenzen und notwendig ist, wenn eine öffentliche Angelegenheit zu bewältigen ist, die als private gar nicht wahrgenommen kann. Der "Respekt" vor "Vielfalt" sowie der "Rolle von staatlichen, regionalen und lokalen Zuständigkeit ("authority") für die Wohlfahrt der Bürger" ist, wenn man die Gedanken des EU-Dokumentes zu Ende denkt, nicht existent. Ursprünglich demokratische Entscheidungen in Hinblick auf die "Qualität öffentlicher Dienstleistungen" werden von der Wählerschaft auf das florierende Gewerbe der "Evaluatoren" übertragen. Das Problem gleicher Bedingungen für "private" und "öffentliche" Interessen entspricht dem "Washington Consensus" - eine Bezeichnung, die in Europa nicht gerne gehört, aber, ebenso wie von IMF/ Weltbank und WTO/ GATS eifrig befolgt wird. Diese de facto Einebnung des Unterschiedes zwischen "privat" und "öffentlich" verspricht keinen Modernisierungssegen. Denn nicht nur in der biologischen Evolution, auch in der historischen Entwicklung ist eine mindestnotwendige Vielfalt ("prerequisit variety") für Überleben wichtig. Institutionelle Vielfalt bildet gleichsam einen komparativen evolutionären Vorteil. Wenn der Untergang des Sowjetsystems denn etwas bewiesen hat, dann war es Schädlichkeit institutionelle Gleichschaltung.

Zur Dringlichkeit eines europäischen Gesellschaftsmodells

Das Fehlen eines Europäischen Gesellschaftsmodells fungierte als Saatbeet europäischer Uneinigkeit ("European Dis-Union"). Ohne gesellschaftspolitische Vision fehlt eine Quelle gemeinsamer Orientierung. Weder die "Vier Freiheiten", weitgehend verwirklicht, noch die "Globalisierung" können oder sollten als Ersatz dienen.

In der Diskussion über die Zukunft Europas geht es bisher weniger um die inhaltliche Orientierung und mehr um Tempo. Dabei hat bisher der Gedanke des "Europas mit zwei Geschwindigkeiten", mit Deutschland und Frankreich als Motor, ziemliche Prominenz erhalten. Eine Verwirklichung dieses Gedankens hätte jedoch gefährliche Konsequenzen. Denn sie würde die schon herrschende Kluft zwischen dem Kern und dem Rand vergrößern. Darüber hinaus würden die Beziehungen zwischen den Ländern am ärmeren Rand zugunsten der Beziehung zum reichen dominierenden Zentrum geschwächt. Diese Tendenz ist heute schon wirksam. Schon vor der Erweiterung handeln wichtige Beitritts-Länder dem EU-offiziellen Wunschbild einer "immer enger werdenden Union" entgegen. Wer sich in den Beitrittsverhandlungen von "old Europe" als arrogant behandelt gefühlt hat, wird Angebote von anderer, stärkerer Seite, nicht unbeachtet lassen - insbesondere dann, wenn es keine europäische Entwicklungsperspektive gibt.

Prof. Dr. Egon Matzner ist Sozioökonom und war Ordinarius für Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik an der TU Wien. Er ist jetzt freier Forscher und arbeitet an dem Thema Globalisierung und die Rolle der EU. Homepage: http://members.aon.at/egonmatzner

PD Dr. Lutz Unterseher ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Er lehrt an den Universitäten Münster und Osnabrück. Er ist Partner in einem Institut für angewandte Sozialforschung und Vorsitzender der internationalen Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik (SAS) mit Sitz in Berlin. Adresse: SASUnterseher@web.de