Richard Sennett, der am 1. Jänner 70 Jahre alt wird, geißelt den radikalen Individualismus und die "New Economy".
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Um eine optimale Entfaltung eines menschlichen Lebens zu gewährleisten, ist es notwendig, eine gesellschaftliche Ordnung herzustellen, in die das Individuum eingebunden ist und auch Verantwortung übernimmt. So könnte man den Grundgedanken der vielschichtigen Arbeiten des Soziologen Richard Sennett formulieren. Die Idee, dass das Individuum sein Leben autonom gestalten kann - ohne gesellschaftliche Verortung und Bezug zu anderen Menschen -, ist seiner Ansicht nach eine Illusion. Sennett ist davon überzeugt, dass der radikale Anspruch auf individuelle Selbstverwirklichung um jeden Preis das Hauptübel der gegenwärtigen westlichen Gesellschaften darstellt. Den tiefgreifenden Egoismus, der einzig auf die Selbstverwirklichung der eigenen Person abzielt, macht Sennett für die wachsende Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Problemen verantwortlich.
Das Grundgefühl der Solidarität und Sorge um die anderen ist auch autobiographisch bedingt. Der am 1. Jänner 1943 in Chicago geborene Sennett, Sohn einer alleinerziehenden Sozialarbeiterin, wuchs in Cabrini Green auf, - in einem der ersten Modellprojekte des sozialen Wohnungsbaus in den USA, in dem unterschiedliche ethnische Gruppen zusammenlebten. Als Kind wandte er sich der Musik zu, die neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ein zentrales Element seines Lebens bildete. So sah er im Mikrokosmos eines Orchesters, in dem der Einzelne seine Kreativität ausüben kann und sich gleichzeitig dem Ganzen einfügen muss, das vorbildliche Grundmodell einer gesellschaftlichen Ordnung.
Zerfallsprozess
Was geschieht, wenn das Zusammenspiel in einem Orchester nicht klappt, wenn im Makrokosmos einer Gesellschaft das Interesse am Allgemeinwohl verloren geht, das beschreibt Sennett in seinem Buch "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität". Der Ausgangspunkt besteht in der Frage: Was geschieht, wenn die Öffentlichkeit als Forum gesellschaftlicher Erfahrung und kulturellen Austausches zerfällt? Die Antwort erfolgt in Form einer reichhaltigen Studie über den Verfallsprozess des öffentlichen Lebens, die mit dem Ancien Régime einsetzt.
Darunter versteht Sennett die Epoche des 18. Jahrhunderts, in der feudale Strukturen durch das Aufkommen des internationalen Handels abgelöst wurden. In dieser Übergangsphase entfaltete sich eine neue Form des öffentlichen Lebens, die Sennett an zahlreichen Phänomenen des Alltags beschreibt. Ein Beispiel ist das Kaffeehaus - für den Soziologen ein Meilenstein in der Entwicklung einer demokratischenÖffentlichkeit. Das Kaffeehaus war ein wichtiges Kommunikationszentrum; jeder hatte das Recht, jeden anderen anzusprechen, ohne Rücksicht auf die soziale Stellung. Es war nicht üblich, die gesellschaftliche Herkunft anderer anzusprechen. Es entfaltete sich eine "Kunst der Konversation", die sich an bestimmte Konventionen hielt. Dabei war es nicht notwendig, über seine subjektive Befindlichkeit Auskunft zu geben.
Als Gegensatz zum egalitären Kaffeehaus nennt Sennett den Club, der im 19. Jahrhundert in Mode kam. Dort trafen sich nicht mehr einander unbekannte Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, sondern Angehörige des wohlhabenden Bürgertums. Der Club war der Ort für das distinguierte persönliche Gespräch einer gesellschaftlichen Elite, in dem es üblich war, über private, "intime" Angelegenheiten zu sprechen. An die Stelle der oberflächlichen "Kunst der Konversation" trat das Gespräch, das menschliche Wärme und Nähe zu den Clubmitgliedern vermitteln sollte. Hier ortet Sennett den Beginn einer Entwicklung, die das Bedürfnis nach menschlicher Nähe zu einem Wert an sich, ja sogar zu einer Gottheit erhob.
Nach seiner Kritik an der "Tyrannei der Intimität" widmete sich Sennett, der sich explizit als "Neuer Linker" versteht, der eingehenden Kritik des Postkapitalismus, welcher mit seiner "New Economy" die Arbeitswelt grundsätzlich verändert hat: Der Arbeitnehmer, der seinen Beruf meist ein Leben lang in einem Unternehmen ausübte, war plötzlich mit der Forderung konfrontiert, möglichst "flexibel" zu sein.
Diese Transformation der Arbeitsbeziehungen beleuchtete Sennett in dem Buch "Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus". Die wesentliche Neuerung bestand darin, dass das Modell der hierarchischen Strukturen durch netzwerkartige Strukturen ersetzt wurde. Viele Aufgaben wurden ausgelagert und von kleinen Firmen übernommen, die mit kurzfristigen Verträgen arbeiteten. Gefragt war nun der höchst motivierte Spezialist, der bereit war, sein Leben nach den Bedürfnissen der Firma auszurichten. Erwartet wurden soziale Mobilität und die Bereitschaft, sich ständig neuen Herausforderungen zu stellen, um den Ertrag der Firma immer weiter zu erhöhen.
Driften im Ungewissen
Für viele Arbeitende waren häufige Stellenwechsel und ungesicherte Arbeitsverhältnisse die Folge dieser Entwicklung. Dabei ging die Fähigkeit verloren, auf Begrenzungen zu achten. Es entstanden "Wesen mit mobilen, disponiblen und austauschbaren Qualitäten", die einer existenziellen Unsicherheit ausgesetzt sind; ihr Leben gleicht einem "Navigieren auf Sicht", "einem Dahintreiben, einem Driften im Ungewissen". Dieser Prozess ist irreversibel, meint Sennett, keine Firma kann es sich heute leisten, nicht den Anforderungen der "New Economy" zu entsprechen.
Diese Entwicklung bringt für den einzelnen Arbeitnehmer eine fundamentale Umstellung mit sich. Vor den Umwälzungen der "New Economy" hatten die meisten Firmen jahrzehntelang ein erprobtes Organisationsmodell benützt, in dem jeder Firmenangehörige eine bestimmte Funktion ausübte; bewährte er sich in dieser Funktion, konnte er damit rechnen, sein ganzes Leben in der Firma zu verbringen. Diese Beständigkeit wirkte sich auch auf die Biografie des Arbeitnehmers aus; sie vermittelte Kontinuität und Sicherheit, die dem "flexiblen Menschen" abhanden gekommen ist.
Im Unterschied zu seiner Studie über den "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens", die ein kaum übersehbares Labyrinth an kulturtheoretischen Ausführungen aufweist, verknüpft Sennett im Werk "Der flexible Mensch" theoretische Erörterungen mit praktischen Beispielen. So illus-triert er seine Thesen etwa an den Lebensläufen von Hausmeister Enrico und dessen Sohn Rico. Während Enricos Leben sich durch eine lineare Berufslaufbahn auszeichnet, die mit einer gewissen persönlichen Stabilität einhergeht, besteht Ricos Leben in einem "Driften im Ungewissen".
Als technischer Berater einer High-Tech-Firma in Silicon Valley ist er der sprunghaften Entwicklung des Unternehmens ausgeliefert, muss ständig den Wohnsitz wechseln, was große Probleme für seine Familie mit sich bringt. Er hat Angst, die Kontrolle über seine Lebensgeschichte zu verlieren. "Die Erfahrung einer zusammenhanglosen Zeit bedroht die Fähigkeit des Menschen", schreibt Sennett, "ihre Charaktere zu durchgehenden Erzählungen zu formen".
Die Verknüpfung von theoretischen Erörterungen und praktischen Beispielen prägt auch Sennetts letzte Publikationen, "Handwerk" und "Zusammenarbeit". Er versteht diese Bücher als "Homo-Faber-Projekte", die von der Vorstellung getragen sind, dass "der Mensch sein Leben und sich selbst durch konkretes praktisches Handeln erschafft".
Alltagsdiplomatie
In seinem Buch "Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält" kommt Sennett wieder auf seine Grundthese von der Bedeutung der Kooperation in der zeitgenössischen Gesellschaft zu sprechen. Er gibt kein allgemein gültiges Rezept, wie dies erfolgen könnte, sondern praktische Beispiele aus dem Alltagsleben. So nimmt er seine Reflexionen über das Orchester wieder auf, beschreibt die handwerklichen Rituale in der Werkstatt eines Londoner Streichinstrumentenbauers und erinnert an die Nachbarschaftsheime seiner Kindheit in Chicago, die Kindern aus ärmeren Schichten halfen, "einen sozialen Anker zu finden". Als Grundlagen der Zusammenarbeit nennt der Soziologe Fertigkeiten wie gutes Zuhören, taktvolles Verhalten und geschicktes Umgehen mit Konfliktsituationen. Diese "Dialogfähigkeiten" sind die Grundlagen für eine "Alltagsdiplomatie", die das gesellschaftliche Zusammenleben erleichtern. Als Beispiel schildert Sennett die Situation einer Beraterin in einem Jobcenter, die mit größtenteils frustrierten oder aggressiven Arbeitssuchenden zu tun hat. Für sie ist es wichtig, den "richtigen Ton" zu finden, um die Klienten nicht weiter zu verstören. Sennett erinnert an den italienischen Begriff "Sprezzatura", welcher Leichtigkeit, Beweglichkeit im dialogischen Umgang bedeutet - ein Begriff, der nicht mit Oberflächlichkeit gleichzusetzen ist, sondern mit der Fähigkeit, ohne Pathos auf die Klienten einzugehen.
Soziale Tiere
Sennetts Wertschätzung der "Dialogfähigkeiten" trifft sich mit der Kommunikationstheorie seines deutschen Kollegen Jürgen Habermas, der eine "ideale Sprechsituation" anstrebt, die von Herrschaftsfreiheit, Gleichberechtigung und Aufrichtigkeit bestimmt wird. Das Ziel besteht in einer wechselseitigen Anerkennung der kommunizierenden Subjekte. Solch eine Anerkennung mittels Dialog war auch das Ziel des französischen Renaissance-Philosophen Michel de Montaigne, auf den Sennett am Ende des Buchs zu sprechen kommt.
Montaignes Dialogphilosophie zielte darauf ab, Probleme von verschiedenen Seiten zu beleuchten, um zu vermeiden, dass sich bei den Individuen eine einseitige Sichtweise verfestigte und so einen offenen Gedankenaustausch verhinderte. Diese Grundeinsicht sei seit dem 19. Jahrhundert verloren gegangen, meint Sennett; seit damals dominiert das Gefühl, auf sich selbst angewiesen zu sein. Dieser Vereinfachung setzt er seinen an Ernst Bloch geschulten optimistischen Glauben entgegen, dass "wir uns in einer Situation des Noch-Nicht befinden".
Und der Soziologe zieht folgendes Fazit für eine solidarische Gesellschaft: "Als soziale Tiere sind wir zu einer tieferen Kooperation verpflichtet als die bestehende Sozialordnung dies vorsieht."
Nikolaus Halmer, geboren 1958, Studium der Philosophie, Romanistik, Theaterwissenschaft. Seit 1989 Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.
Bücher von Richard Sennett:
Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Übersetzt von Reinhard Kaiser. Berlin Verlag, Berlin 2008, 488 Seiten.
Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Übersetzt von Martin Richter. Berlin Verlag 2009, 223 S.
Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Übersetzt von Michael Bischoff. Verlag Hanser, Berlin 2012, 414 Seiten.
Richard Sennett, geboren am 1. 1. 1943 in Chicago, studierte Musikwissenschaften und Violoncello, bevor er sich der Soziologie zuwandte. Seit 1973 lehrte Sennett Geschichte und Soziologie an der New York University, später an der London School of Economics.