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Für einen anderen Diskurs

Von Bernhard Baumgartner

Leserforum
Leider immer häufiger mussten in jüngster Zeit hasserfüllte Kommentare gelöscht werden. Es stellte sich zunehmend die Sinnfrage.
© Jon Tyson

Auch die "Wiener Zeitung" folgt einem Trend, von der Kommentarfunktion zur klassischen Leserredaktion zu wechseln.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Es wird Ihnen wahrscheinlich nur auffallen, wenn Sie diesen Text online lesen: Die "Wiener Zeitung" hat ihre direkte Kommentarfunktion bei den auf ihrer Website erscheinenden Artikeln deaktiviert. Nicht aus einer Laune oder Mutwillen heraus, sondern aus guten Gründen, die wir hier nahelegen werden. Seien Sie versichert: Ihr Feedback ist uns weiterhin wichtig, wir ändern jedoch die Art und Weise, wie dieses künftig veröffentlicht wird.

Wir tun dies im Gleichklang mit vielen anderen Medien. In Österreich, in Deutschland aber auch international. Immer weniger Medien lassen die Kommentarfunktion bei jedem Artikel offen. So gut wie alle moderieren bereits ihre Kommentare. Manche vorab, wie es die "Wiener Zeitung" bisher getan hat, und mache im Nachhinein - auf Meldung hin. Der "Spiegel" zum Beispiel lässt nur bei ausgewählten Artikeln Kommentare zu und moderiert diese. Zudem dürfen auch nur Abonnenten kommentieren. Auch beim "Stern" findet man keine Kommentare mehr bei normalen Meldungen. Auch die BBC lässt Kommentare nicht zu, der ORF tut dies schon seit vielen Jahren nicht mehr - auch aus medienpolitischen Regulierungsgründen. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat die Kommentarfunktion schon länger abgeschafft.

Die "Wiener Zeitung" hat sich vor vielen Jahren für das System der Vorab-Moderation entschieden. Kommentare mussten dabei von einer dafür zuständigen Person freigeschaltet werden. Das ist aufwendig und kostet Zeit und Ressourcen. Das sind jährlich viele tausende Arbeitsstunden, die wir eigentlich lieber in tatsächlichen Journalismus stecken wollen.

Jeder, der diesen Dienst tut, weiß, was Sache ist. Es ist wie bei vielen Bereichen des Lebens: Es gibt gute Tage und schlechte Tage. An guten Tagen muss man nur vereinzelt Kommentare löschen. An schlechten Tagen bis zu jeden zweiten. Reizthemen wie Corona, Asyl, Ukraine-Krieg, Strom- und Benzinpreise oder zuletzt die ORF-Haushaltsabgabe haben sich als regelrechte Trigger erwiesen, die geradezu organisiert scheinende, wütende Verbalattacken in den Kommentaren auslösen. Reihenweise Beleidigungen von Politikern und anderen Akteuren, aber auch von Lesern untereinander stehen dabei an der Tagesordnung. Und sie sind manchmal nur die Spitze des Eisbergs. Nicht selten mussten sogar strafrechtlich relevante Äußerungen wie Drohungen oder üble Nachrede entfernt werden. Was die Autorinnen und Autoren dieser Ergüsse aber leider nicht davon abhält, das Posting hartnäckig immer wieder zu schicken, wohl in der Hoffnung, nach einem eventuellen Dienstwechsel auf tolerantere (beziehungsweise unaufmerksamere) Behandlung zu stoßen. Meistens natürlich vergeblich.

Aber es sind doch nicht alle so!

Zugegeben, es sind nicht alle Leserinnen und Leser so, sondern oft kleine, dafür aber sehr aktive und sehr laute Gruppen. Und dennoch wollen wir unseren Journalismus nicht auf gleicher Ebene mit Beschimpfungen und Beleidigungen sehen - ganz abgesehen von möglichen strafrechtlichen und medienrechtlichen Konsequenzen für die Poster, aber auch für das Medium. Neue Regelungen gegen Hass im Netz haben europaweit versucht, das Problem in den Griff zu bekommen, indem Medien zu rascher Reaktion verpflichtet werden. Diese kann nur gewährleistet werden, wenn man entsprechende Dienste besetzen kann, was schwierig ist, vor allem für kleinere Häuser.

Einmal gepflegt auskotzen

Die Frage, was Menschen dazu bringt, sich im Deckmantel der vermeintlichen Anonymität (die es in Wahrheit nie gab und heute schon gar nicht gibt) in den Kommentarspalten auszukotzen, bietet Raum für Interpretationen. Der Medienwissenschafter Lorenz Engell spricht im MDR mit Blick auf die Kommentarkultur von einer "affektgesteuerten Kommunikation". Damit, so Engell, sei eine ganz neue Art von Texten entstanden, die es so früher nicht gegeben habe. "Diese Art von Kommunikation spricht gar nicht so sehr das kritisch-rationale Denken und Bewusstsein und das Abwägen und die Argumente an, sondern ist geradezu körperlich", sagt der Professor für Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar.

Es entstehe eine "Schreispirale", die sich in der Online-Diskussionskultur breitmache: Wer schreit lauter, wer schimpft stärker? Wer vertritt die skurrilere, am meisten um Aufmerksamkeit heischende Idee? Dies kann man an manchen Tagen gut im "Standard"-Forum beobachten, das von Anfang an auf den Aufbau einer großen, Clicks bringenden Community gesetzt hat und noch immer setzt.

Aber stehen die in den Online-Kommentaren vertretenen Meinungen für die Stimmung in der breiten Bevölkerung? "Es kommentiert definitiv nicht der Querschnitt der Bevölkerung", sagt die Kommunikationswissenschafterin Anna Sophie Kümpel im MDR. Studien liefern zwar höchst unterschiedliche Zahlen, alle kommen aber zum klaren Ergebnis: Nur ein kleiner Teil der Nutzer kommentiert überhaupt. Und von dieser ohnehin schon kleinen Gruppe, gemessen an der Zahl aller User, verfasst wiederum nur eine absolute Minderheit den größten Teil der Kommentare.

Exklusiv für Abonnenten

Die Medien haben in den vergangenen Jahren die Kommentare daher immer mehr einschränken müssen. Registrierung, Exklusiv-Stellung für zahlende Abonnenten (deren Identität geprüft ist), Beschränkung der Diskussion auf spezielle Kommentarseiten, Vorabkontrolle, Sperre von Postern, die sich mehrfach nicht an Regeln halten - das alles kann man machen, es ist allerdings derart aufwendig, dass sich früher oder später die Sinnfrage stellt.

Für die "Wiener Zeitung" ist diese Sinnfrage in der Online-Ausgabe nun bis auf Weiteres beantwortet. Wir nehmen weiterhin sehr gerne Ihre Reaktion entgegen, als Leserbrief per E-Mail (oder für Nostalgiker sogar per Post). Damit wollen wir auch erreichen, dass konstruktive Kritik, gute Argumente und Kommentare nicht mehr im Geschrei untergehen und die Debatte dadurch qualitätsvoller wird. Nach wie vor werden täglich Reaktionen unserer Leser auf der Leserbrief-Seite in Print und Internet veröffentlicht. Wer aber gerne weiterhin online posten möchte, kann das auch auf den Social-Media-Kanälen der "Wiener Zeitung" tun. Der Kommentarfunktion auf der Website sagen wird jedoch ab heute Adieu.