Schwierige Arbeitssituation im Sozialbereich: eine Bestandsaufnahme.
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Wien. Nennen wir sie Maria M. Maria M. arbeitet als mobile Heimhilfe bei einem Wiener Pflegedienstleister. Warum sie ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, wird deutlich, wenn sie ihren Arbeitsalltag schildert: M. steht um 5.30 Uhr auf, um sieben hat sie ihren ersten Klienten. Waschen, Betten machen, Frühstück herrichten und füttern - dafür hat sie alles in allem eine halbe Stunde Zeit. "Meistens bleibe ich 15 Minuten länger, denn sonst müsste ich die Klientin eingeseift in der Dusche stehen lassen", schildert M. Die Extrazeit ist ihr "Privatvergnügen". Stunden, die über ihren Teilzeit-Vertrag im Ausmaß von 35 Wochenstunden hinaus gehen, werden manchmal bezahlt, manchmal auch nicht. Zeitausgleich gibt es keinen, denn auch in der Pflegebranche wird der Druck immer höher.
Zeitdruck steigt durch höhere Klientenzahlen
"Die Klienten werden immer mehr, früher hatte ich vier am Tag, jetzt sind es bis zu neun", erzählt M. Die Zeit beim Klienten würde auch gekürzt, wenn das Pflegegeld nicht ausreiche. So schildert M. den Fall einer alten Dame: "Sie war taub und blind, wir waren immer 20 Minuten länger bei ihr, weil sie sich nur sehr langsam vom Bett zur Toilette bewegen konnte und auch sehr lange für das Frühstück gebraucht hat." Als die Problematik in einer Teamsitzung angesprochen wurde, habe es seitens ihres Arbeitgebers geheißen: "Soll sie eben im Bett essen, dann fällt die Wegzeit vom Bett zum Tisch weg." "Für die Menschlichkeit hat man in dem Job keine Zeit", urteilt M. Und: "Wenn ich alt bin, will ich nicht so behandelt werden."
Geteilter Dienst: kaum Zeit für Essen oder Arztbesuche
Abgesehen vom generell hohen Zeitdruck leidet sie auch unter einer generell "rücksichtslosen Zeiteinteilung". Da Heimhilfen meist morgens und abends benötigt werden, gibt es in dieser Branche - wie zum Beispiel auch in der Gastronomie - den geteilten Dienst: Frau M.s erste Schicht geht von 7 bis 13 oder 14 Uhr, die zweite von 16 bis 20 Uhr. Dazwischen bleibt der Mutter dreier erwachsener Kinder kaum Zeit für sich. Oft würden die Dienste noch dazu sehr kurzfristig eingeteilt - eigene Arztbesuche oder gar ein Privatleben seien da kaum möglich: "Meine Ehe ist an meinem Job zerbrochen", sagt M. Auch fehlt ihr oft die Zeit, auf ihre eigene Gesundheit zu achten: "Pausen sind gesetzlich vorgeschrieben, wir schreiben sie auch auf, aber wir machen sie nicht." Denn bei nur 15 Minuten, die ihr als Wegzeit zur Verfügung stehen, hetzt sie schon ohne Unterbrechung oft der Zeit hinterher.
So wie M. geht es vielen: Eine jüngst im Auftrag der Arbeiterkammer Oberösterreich durchgeführte Studie hat ergeben, dass neun von zehn Beschäftigten in Gesundheits- und Pflegeberufen unter körperlichen Beschwerden leiden. Auch psychisch ist der Job belastend. Zwar ist im Kollektivvertrag Supervision vorgesehen, allerdings "war das bei uns eine einmalige Angelegenheit", sagt M. Auch die Burnout-Rate ist in diesem Bereich mit geschätzten 30 Prozent sehr hoch, wie Ursula Frohner, Präsidentin des Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes erklärt. All diese Faktoren führen dazu, dass die meisten "höchstens viereinhalb bis fünf Jahre in dem Job verbleiben - und das, obwohl der Bedarf in diesem Bereich enorm hoch ist".
Dass nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die Arbeitgeber im Gesundheits- und Pflegebereich unter enormem Druck stehen, zeigen die aktuellen Kollektivertragsverhandlungen, vor denen beide Seiten vor dem steigenden Kostendruck und damit der Gefahr für Pfleger und Gepflegte gewarnt haben.
"Gebe zu, dass der Druck durch enge Mittel wächst"
Der Bags-Kollektivvertrag, der Leit-Kollektivvertrag für die Branche, der für rund 90.000 Beschäftigte zur Anwendung kommt, ist nach der Berufsvereinigung von Arbeitgebern für Gesundheits- & Sozialberufe (Bags) benannt. Darin sind 300 Arbeitgeber in diesem Bereich organisiert, unter anderem Volkshilfe, Hilfswerk und Pro Mente. Angesprochen auf Maria M.s Schilderungen, meint Bags-Vorstandsvorsitzender Wolfgang Gruber, die Arbeitgeber seien "nicht berechtigt, das Arbeits- und Sozialrecht auszuhebeln", für solche Praktiken habe er auch kein Verständnis. Allerdings "gebe ich grundsätzlich zu, dass der Druck durch die engen finanziellen Mittel zunimmt".
Die Arbeitgeber sind in einer Art Salami-Position zwischen der öffentlichen Hand und den Arbeitnehmern beziehungsweise Klienten. Denn die Finanzierung hänge nun einmal von Bund und Ländern ab. Im vergangenen Sommer hat der Nationalrat zwar die Einrichtung eines Pflegefonds beschlossen, der mit 700 Millionen Euro dotiert ist. Damit ist die Finanzierung der Pflege allerdings nur bis 2014 sichergestellt - und auch das nicht in ausreichendem Maße, wie Gruber meint: "Wir können mit der demografischen Entwicklung nicht Schritt halten", sagt er. Laut Sozialministerium finanziert der Bund die Pflege mit insgesamt 2,4 Milliarden Euro pro Jahr, ab Jänner 2012 kommen dazu noch 1,4 Milliarden Landespflegegeld.
Wenn die Gewerkschaft der Privatangestellten und die Vida am 12. Jänner wieder mit den Arbeitgebern verhandeln, werden sie jedenfalls eine Erhöhung der Löhne um drei Prozent verlangen. Außerdem geht es den Gewerkschaften um Anpassungen im Rahmenrecht. Eine der wichtigsten Forderungen ist dabei, dass - ähnlich wie heuer für den Handel erreicht - Karenzzeiten für die kollektivvertragliche Vorrückung angerechnet werden.
Ruf nach Anerkennung der Karenzzeiten
Denn auch im Gesundheits- und Sozialbereich arbeiten hauptsächlich Frauen, die diese Regelung besonders trifft: Drei Viertel der Arbeitnehmer sind weiblich. Bags-Chef Gruber sieht hier aber eher den Gesetzgeber gefordert: Es könne nicht sein, dass die Gleichstellung der Frau über den Umweg der Kollektiverträge erreicht werden soll, sagt er.
Maria M. will jedenfalls in dem Job bleiben, so lange es geht. "Man ist völlig ausgelaugt und ausgebrannt", sagt sie. Aber "ich mache es trotzdem gerne, weil mir die Menschen ans Herz wachsen".