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Für Moskau ein Problem

Von Jan Richard

Europaarchiv

Mit dem EU-Beitritt Estlands, Lettlands und Litauens wurden Millionen Russinnen und Russen Bürger der Europäischen Union. Doch hunderttausende Menschen halten auch weiterhin an ihrer russischen Staatsbürgerschaft fest. Dies räumt Moskau die Möglichkeit ein, angebliche Verletzung von Minderheitenrechten anzuprangern - und damit ständigen Druck auf die baltischen Staaten auszuüben.


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Allein wie viele Russischsprachige es in der erweiterten Union gibt, darüber lässt sich trefflich streiten. Tatjana Zhadnok, die Vertreterin der Russen in Lettland und gewählte Mandatarin des Europäischen Parlaments behauptet etwa, dass rund drei Millionen Russen in den drei baltischen Staaten und noch einmal so viele im übrigen Europa leben. Sie zählt dazu auch die "Russlanddeutschen" in der Bundesrepublik, von denen in der Tat bei der Einwanderung viele perfekt Russisch (mit leichtem deutschen Akzent) sprachen, aber oft nur sehr rudimentär die deutsche Sprache beherrschten.

Aber nicht einmal Russland selbst hält diese Zahlen der strammen ehemaligen Kommunistin Zhdanok für plausibel. So berichtet etwa die Zeitung "Iswestija", dass derzeit etwa 25 Millionen ethnische Russen außerhalb der Russischen Föderation leben. Davon gäbe es 5 Millionen in Europa. In den drei baltischen Staaten leben aber nach offizieller russischer Zählart etwa 1,5 Millionen Russen.

Wirbel zu Schulbeginn

Doch der Verweis auf gewisse Probleme der russischen Minderheit in der EU, die gelöst werden müssen, bleibt. So war der Schulbeginn am 1. September in Lettland denn auch von lautstarken und dramatischeren Demonstrationen als je zuvor begleitet. Diese waren von einem "Stab" russischsprachiger Aktivisten organisiert worden, sie riefen sogar zum "Hungerstreik als letzter Waffe" auf und warnten vor einem unmittelbar bevorstehenden "ethnischen Konflikt", der zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Gegnern der Schulreform und Ordnungshütern führen werde.

Demonstrationen gab es zwar, blutige Straßenschlachten aber keineswegs. Immerhin sieht die neue Schulverordnung lediglich vor, dass in den öffentlichen Schulen für ethnische Minderheiten (also etwa in Schulen für die russische, polnische, weißrussische, ukrainische Minderheit, die mit Steuergeldern finanziert werden) künftig nicht wie bisher 50% der Fächer in Lettisch unterrichtet werden, sondern 60%. Von einem "Tod" der 130 russischen Oberschulen kann also keine Rede sein.

Glaubt man den Angaben der russischen Lettin Zhdanok, so sind von den 2,3 Millionen Einwohnern des Landes etwa eine Million russischsprachig, aber nur Bürger zweiter Klasse. Die lettische Staatsbürgerschaft erhielten vor zehn Jahren automatisch nur jene Personen und ihren direkten Nachkommen, die schon vor dem 17. Juni 1940 - also vor der Annexion durch die Sowjetunion - hier gewohnt hatten.

Sind die Russen nur Aliens?

"Die Lage ist absolut verrückt", klagte Tatjana Zhdanok in einem Interview mit dem russischen Blatt "Prawda" dennoch. "Die Hälfte der russischsprachigen Bevölkerung besitzt zwar einen lettischen Pass, aber beim Eintrag Nationalität werden sie behandelt, als seien sie Aliens." Die Zahlen aus Riga zu diesem Problem sind übrigens ganz anders: Es gäbe nicht eine Million, sondern nur 664.000 ethnische Russen im Lande und davon besitze fast die Hälfte einen lettischen Pass, sei also keineswegs von Bürgerrechten ausgeschlossen.

Trend zur Einbürgerung

Jenen, die bisher keine Staatsbürgerschaft haben oder denen sie entzogen wurde, müssen, um die Staatsbürgerschaft zu erlangen, mehrere Prüfungen in lettischer Sprach- und Landeskunde ablegen. Der Trend zur Einbürgerung hält an: Die Zahl der Staatsbürgerschaften wird heuer wahrscheinlich mit 16.000-17.000 um beachtliche 62,5 Prozent über dem Vorjahresergebnis liegen.

Dass alle derzeit 470.000 Nicht-Staatsangehörige diesem Vorbild folgen werden, bezweifelt die Leiterin der zuständigen Behörde, Eizenija Aldermane, allerdings: "Es gibt etwa 130.000 Personen, die aus verschiedenen Gründen sich nicht naturalisieren lassen können oder es auch nicht wollen. Ich denke an Menschen über sechzig, die Schwierigkeiten mit dem Erlernen der lettischen Sprache haben, aber auch unter den Jüngeren gibt die Kategorie des überzeugten Nicht-Staatsangehörigen".

Viele der tatsächlichen oder auch nur aufgebauschten Probleme der russischen Minderheit in den baltischen Staaten sind nur durch die langen Schatten der Vergangenheit verständlich. Unter anderem wird das Klima zwischen den Volksgruppen durch die "Heldenverehrung" für all jene belastet, die im Zweiten Weltkrieg auf Seiten Hitlerdeutschlands gegen die Rote Armee gekämpft haben. So hat etwa die estnische Stadt Lihula ein Denkmal für die Soldaten der 20. estnischen Division der Waffen-SS errichten.

Belastung durch Geschichte

In Litauen ist - aus russischer Sicht - die oft freiwillige Teilnahme von Litauern an den Ausrottungsaktionen von Gestapo, SS, SD und den berüchtigten Polizeibataillonen an Juden, aber auch Partisanen nicht aufgearbeitet. Im Gegenteil: Sie würde bis heute wohlwollend toleriert.

Andererseits können es die ultra-nationalistischen Gruppen in den baltischen Staaten nicht lassen, immer wieder Russland zu provozieren. Fast monatlich werden Monumente gefallener sowjetischer Soldaten mit feindlichen und herabwürdigenden Parolen beschmiert, wie zuletzt am 20. September im Dorf Maksa in der Region Tartu in Estland.

Nicht zuletzt diese Aktionen bieten Russland immer wieder Gelegenheit zu einem politischen Gegenschlag: So hat das russische Außenministerium Ende September die Schulreform in Lettland und die Staatsbürgerschaftsproblematik in Estland und Litauen als "problematisch" und die fortgesetzte "Verletzung der Menschenrechte in den baltischen Staaten" als eine schwere Bürde für die künftigen Beziehungen zwischen Moskau und Brüssel bezeichnet.

Überdies ließ der russische Rechnungshof vor wenigen Wochen verlauten, nach seinen Berechnungen müssten die baltischen Staaten mindestens 3 Milliarden Dollar an Entschädigung für russisches (ehemals sowjetisches Eigentum) zahlen. Was Estland, Lettland und Litauen postwendend empört zurückwiesen. Nun drohen sie ihrerseits mit einer Gegenrechnung: wie viel nämlich Russland den baltischen Staaten als Kompensation für die gewaltsame Annexion 1940 und die nachfolgende Besetzung zu zahlen habe.