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Für nimmer jung

Von Bruno Jaschke

Reflexionen

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"Früher waren wir nur wenige, heute sind wir Millionen", sagte Janis Joplin im August 1969 auf der Bühne von Woodstock. Tatsächlich ist Woodstock nicht nur die Mutter aller heute beliebten und bestens besuchten Festivals - von Primavera in Barcelona über Sziget in Budapest bis zum gerade angelaufenen heimischen Aushängeschild Frequency, sondern markiert, wie Joplin in naivem Erstaunen festgestellt hat, auch den Zeitpunkt, an dem Pop mehrheitsfähig wurde und nicht mehr einfach als spinniges Außenseiterphänomen ignoriert werden konnte.

Das Altern der Stars

Wirtschaftlich haben Pop, seine Protagonisten und Vermögensverwalter ihre Lektionen rasch gelernt: Die Stars, die zunächst von Managern und Geschäftemachern nach allen Regeln der Kunst ausgenommen worden waren, begannen nun ordentlich zu verdienen; die Plattenfirmen lernten ihre Verkäufe und Umsätze zu optimieren.

Wie er sich also auf ein langes Leben einzurichten begann, stand Pop, apodiktisch mit "Jugendkultur" konnotiert, allerdings einem Problem gegenüber: dem Altern. Nicht zuletzt forciert durch das frühe Ableben der Idole Brian Jones, Janis Joplin, Jimi Hendrix und Jim Morrison gelang es ihm eine Zeit lang, so zu tun, als liefen in seinem Universum keine biologischen Uhren. Mitte der 70er Jahre konnte dieses Trugbild nicht länger aufrechterhalten werden, da nach der Reihe Leitfiguren wie Mick Jagger, John Lennon, Bob Dylan, Paul McCartney oder Pete Townsend das 30. Lebensjahr und damit eine Schallgrenze überschritten, der sich auch schon deren Nachfolgegeneration um David Bowie, Bruce Springsteen oder Elton John hurtig annäherte.

So kam der Generationskonflikt, den Pop vordem auch als Konflikt mit einem überholten Werte-Kanon nach außen hin ausgetragen hatte, in sein eigenes Territorium. In Punk und New Wave manifestierte sich die Rebellion einer jungen Generation gegen die in die Jahre gekommene Hippie-Generation, die sie als träge und saturiert begriff und deren von Blues- und Progressive-Rock-Klischees überwucherte Musik ihr nichts mehr zu sagen hatte. Diese Spaltung innerhalb der Gegenkultur hielt noch eine Weile vor -während naturgemäß auch die Generation New Wave von der vierten Dimension eingeholt wurde.

Spätestens Mitte der 80er Jahre war es mit dem Allmachtsanspruch der Jugend auf den Planeten Pop vorbei: Rollende Inkassounternehmen wie die Stones hatten vorexerziert, welche Gewinnspannen man als Verwalter der eigenen Legende abschöpfen konnte, während demgegenüber Künstler wie Neil Young, Scott Walker oder John Cale zeigten, dass es Kreativität und zeitgemäße Relevanz auch jenseits der 40 gab.

"Im Geschäft geblieben"

Nach einer kurzen Phase der Verblüffung war Altern im Pop kein Thema mehr. Die letzten größeren Bewegungen im Genre - Grunge und HipHop - waren keine Rebellionen mehr gegen Vorgängergenerationen, sondern im Gegenteil Respektbekundungen an ausgesuchte Protagonisten aus deren Reihen. Im Prinzip hat sich an diesem Zugang bis heute nichts geändert.

Nicht nur die Musiker, sondern auch die Fans sind gealtert und "im Geschäft geblieben". Letzteres im wahrsten Wortsinn, denn es sind die älteren Jahrgänge (um 1960), die die Musikindustrie am Leben halten und noch Tonträger kaufen. Bemerkenswerter ist indes ihr verändertes Rezeptionsverhalten. Frühere Fan-Generationen sind ab einem gewissen Zeitpunkt ausgestiegen. Entweder haben sie sich von Pop als einer Art Jugendtorheit gänzlich distanziert oder sie verblieben in ihren biographischen Kreisen: Die Generation Elvis konnte schon nicht mehr mit den Rolling Stones mit, die Hippie-Generation nicht mit Punk und New Wave, deren meiste Anhänger wiederum nicht mehr mit Rap, HipHop und Techno. Dass sich ältere Jahrgänge neuen Entwicklungen verschließen und "stehenbleiben", ist durchaus heute noch zu beobachten, aber bei weitem nicht mehr so häufig wie früher.

Wie "extra"-Ressortleiter Gerald Schmickl in seinem unlängst erschienenen Buch "Lob der Leichtigkeit" (Edition Atelier) in dem nach Lou Reed betitelten Essay ",You Can’t Beat Two Guitars, Bass And A Drum" treffend bemerkt: "Weit erstaunlicher als der Umstand, wie viele Ältere sich im heutigen Pop-Geschäft nicht auskennen, ist ja die Tatsache, wie viele sich darin sehr gut auskennen!"

Lust auf Vergangenheit

Auch "Aussteiger" ließen sich heute gerne in die Gegenwart zurückholen. "Die meisten, die irgendwann und irgendwo zwischen Stones und Sting verloren gingen, sind dankbar, wenn sie Zugang zur aktuellen Pop-Szene finden", so Schmickl.

"Ich kenne nicht so wenige ältere Menschen, die über Anthony & The Johnsons, Björk und Devandra Banhart wieder die Kurve in die Gegenwart gekratzt haben", pflichtet Presse-Kritiker Samir Köck bei.

Was auf einen (durch zeittypische Phänomene wie Anpassungsdruck und Beschleunigung forcierten und zu mehr mentaler Offenheit hin orientierten) Wandel des Alterns selbst schließen lassen könnte, erklärt sich für den Musiker und Journalisten Robert Rotifer allerdings eher durch eine grassierende Vergangenheits-Orientierung unter den Musikschaffenden:

"Ich glaube, dass es viele junge MusikerInnen gibt, die die Geschmäcker der Stehengebliebenen teilen, und das mit ehrlicher Leidenschaft. Sie beziehen oft ihre musikalische Identität daraus, in der Vergangenheit zu schürfen, während die Stehengebliebenen sich gerne selbst schmeicheln, wie au courant sie sind. Es ist sehr einfach für einen alten Crosby Stills & Nash-Fan, bei der neuen Musik mitzuhalten, wenn er darunter die Fleet Foxes verstehen kann. Arcade Fire haben sicher viele U2- und Springsteen-Fans mit der Gegenwart versöhnt. Selige Amy Winehouse sowieso, detto ihre Epigoninnen von Adele bis - in weiterer Konsequenz - Rumer."

Seit Jungle, wie Drum & Bass Anfang der 90er Jahre noch hieß, habe er, Rotifer, nicht mehr den verstörenden Schock des Nie Gehörten verspürt. "Alles, was ich seither gehört, gemocht oder verabscheut habe, war problemlos in die Welt des Stehengebliebenen zu assimilieren."

Diesem Verdikt könnte indes eine beträchtliche Menge Musik aus diesem Millennium entgegengehalten werden, die Pop auf jedenfalls herausfordernde Weise mit ungewöhnlichen Zugängen und stilistischen Wagnissen konfrontiert haben: Beirut mit ihrem Marsch-Gebläse. M.I.A. mit ihrer markerschütternden Mischung aus HipHop, Dancehall und Electronica. Owen Pallett und These New Puritans, die auf spannende Weise Pop mit der sogenannten E-Musik infiltrieren. James Blake, der Songs mit den Mitteln des Dubstep und unzähligen Verfremdungseffekten in harsche Soundscapes kleidet. "Die letzten zehn Jahre sind musikalisch äußerst ergiebig", meint denn auch Köck. Bei günstiger Sozialisation sprächen die älteren Jahrgänge auf dieses Angebot durchaus an: "Dann sieht man keinen Grund, mit etwas aufzuhören, das Spaß macht und auch geistig anregt. Außerdem wissen Ältere von der politischen und mentalen Relevanz, die Popmusik haben kann, abseits des Entertainmentfaktors".

Solche Relevanz scheint allerdings "den Jungen" nicht mehr kommunizierbar. Nach Köcks (kultur)pessimistischer Auffassung liegt das auch an unvorteilhaften habituellen Prägungen: "Es ist eine Generation nachgewachsen, der Egoismus über alles geht. Da imaginiert sich lieber jeder selbst als Popstar - bevor er sich auf etwas Gehaltvolles von jemandem anderen einlässt. Diese grassierende Ego-Manie hat wohl auch etwas damit zu tun, dass man schon als Kleinkind mit Computern arbeitete, mit dem Mausklick Imperator war. So was muss eine Persönlichkeit prägen . . ."

Es gibt allerdings "die Jungen" (anders als in den 50er, 60er 70er Jahren) als einigermaßen homogene Zielgruppe gar nicht mehr. Sie sind, schreibt Schmickl, "in subkulturelle Internetforen und popmusikalische Nischen abgewandert und laufen eher am Rande mit".

Ende der Glaubenskriege

Von einer lebensprägenden Bedeutung ist Pop bei den Unter-30-Jährigen jedenfalls Welten entfernt. Präferenzen für bestimmte Marken-Kleidungsstücke oder Mobiltelefone sind wichtiger als die musikalischen Favoriten; vorbei sind Glaubenskriege à la Beatles versus Stones, Disco versus Rock, New Wave versus Heavy Metal. Geschmackliche Divergenzen existieren zwar durchaus noch, werden aber denkbar gleichgültig hingenommen.

"Popmusik stößt nicht mehr auf die frühere Missbilligung der Erwachsenengesellschaft und hat daher nicht mehr denselben oppositionellen Wert. Musik hat vermutlich lange Zeit aus symbolischen Gründen bei Jugendlichen einen künstlich überhöhten Stellenwert genossen", erläutert Rotifer. "Tatsächlich waren musikalische Neigungen historisch doch nie in derartiger Massenwirkung mit identitätsstiftenden Qualitäten befrachtet wie seit dem frühen 20. Jahrhundert in den revolutionären Phasen des Jazz, Rock’n’Roll, Protestsongs, des frühen Rock oder Punk, des Disco, des Metal, des HipHop oder der Rave-Kultur. Vielleicht waren die Erneuerungsschübe, die jeweils weite Teile einer Generation erkennbar miteinander vereinten, eigentlich wichtiger als das wirklich musikalische Interesse. Und jetzt, wo die Gleichzeitigkeit der Nischen und die Enttabuisierung aller Stile sich durchgesetzt hat, Musik also kein brauchbares Mittel zur Distinktion mehr ist, reduziert sich ihr Stellenwert immer mehr auf das eigentliche Hören. Und das spielt eben bei vielen Menschen in Wahrheit eine weit geringere Rolle als es zur Blütezeit der Jugendkulturen erschienen wäre."

Samir Köck macht den Bedeutungsverlust von Pop an sozio-kulturellen Ursachen fest: "Das liegt einerseits daran, dass die jungen Menschen mit einer ganzen Menge anderer stimulierender Phänomene konfrontiert sind, andererseits daran, dass sie entpolitisiert sind, nicht mehr aufbegehren, sondern sich bloß richtig integrieren wollen. Immer weniger junge Menschen leisten sich ein paar Jahre des Experimentierens - Karrierepläne starten oft schon mit 15 Jahren, statt realer Freundschaften, beginnt man schon sehr früh mit Networken. Da ist dann keine Zeit und kein Wille da, sich mit anderen, eventuell möglichen Lebensformen in unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen, ergo gibt es geringes Interesse an Subkultur, andererseits wird jede subkulturelle Regung im Ansatz kommerzialisiert. Überspitzt gesagt: Merchandising hat Vorrangstellung vor der eigentlichen Musik; ursprünglich subkulturelle Zeichen sind zu purer Mode verkommen - siehe Tatoos.

Außerdem ist auch die Berichterstattung in den Zeitungen mitverantwortlich für das ,Bewusstseinsvakuum jüngerer potenzieller Hörer. Wenn man nicht immer auf der Jagd nach ephemeren sogenannten Phänomenen wäre, sondern nach philosophischen, politischen, ökonomischen und religiösen Gesichtspunkten Reviews schreiben würde - wäre das Interesse vielleicht größer."

Missverständnisse

Pop tut sich paradoxerweise heute auch deshalb schwer, noch irgendeine Art von Durchschlagskraft zu entfachen, weil er als Schlagwort allgegenwärtig ist. Manager, Politiker, Wissenschafter, Sportler werden zu Pop-Stars hochgejubelt und befleißigen sich nur zu gerne auch einer entsprechenden Zeichensprache. Verkehrt proportional zu seiner Verbreitung hat der Begriff Pop an Bedeutung verloren. "Aus dem richtigen Diktum", sagt Rotifer, "dass man sich mit allem auseinandersetzen muss, was Pop ist, wurde vielfach das Missverständnis, alles, was groß ist, auch irgendwie gut finden zu müssen - wie zu beobachten an Phänomenen wie Beyoncé oder Lady Gaga: Ich kenne jede Menge JournalistInnen, die das aus Prinzip großartig finden, aber verständlicherweise nie anhören."

Dass Pop seinen subversiven Status nicht mehr aufrechterhalten kann, muss nicht mehr ausdrücklich betont werden. Man sieht und hört die Signale im Fernsehen und Radio, wenn Pop als standardisierte, formatradiogerechte Konfektionsware oder als Soundtrack für Werbung kommt; man sieht und hört sie in der U-Bahn, wenn Lady Gaga den Sitznachbarn dazu animiert, ein Gespräch auf dem Mobiltelefon anzunehmen.

Große Gesten gegen globale Missstände - etwa Live 8 -geraten, von Konzernen gesponsert und einer vulgären "Event"-Manie einverleibt, unweigerlich zur großen Sause. Protest-Songs, womöglich veräußert von Milliardären wie den Rolling Stones ("Sweet Neo Con"), haben ungefähr so viel Plausibilität wie ein Andreas Treichl als Caritas-Chef.

Robert Rotifer: "Pop hat sich zu Tode gesiegt, das wäre die einfache Erklärung. Die Wahrheit ist aber komplexer und auf unangenehme Weise ambivalent. Popmusik war nämlich nicht nur auf ,linke Weise dissident, sondern auch in ihrem kapitalistischen Wildwuchs, der sie von der Hochkultur so radikal unterschieden und von der Zustimmung der Obrigkeit unabhängig gemacht hat. Schließlich war den Waffenhändlern im EMI-Konzern egal, mit welchen Parolen die Beatles und die Stones für sie Geld gemacht haben. Der Staat hätte deren subversivere Seiten dagegen nie gefördert. Auch die Punk- und Indie-Kultur war einerseits ein ,linkes Anti-Establishment-Projekt, andererseits aber pures thatcheristisch/reaganistisches Self-Made-Unternehmertum. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der neoliberale Konsens mit seinem Lob der Cultural Industries all diese Ausformungen umarmen würde.

Seit der Reduktion des Tonträgermarkts auf ein lächerlich kleines Geschäft, die den Pop vollends in die Hände des Marketing getrieben hat, ist auf Massenbasis eigentlich mithilfe des Pop keine subversive Geste mehr glaubhaft zu transportieren. Wenn Popkultur nur mehr in ihrer Funktion als Anreiz zum Kauf anderer Konsumprodukte finanzierbar ist, dann ist sie als politisches Sprachrohr logischerweise korrumpiert und unglaubwürdig."

Bruno Jaschke, geboren 1958, lebt als freier Journalist und Autor in Wien und ist ständiger Mitarbeiter der "extra"-"music"-Seite.