Zum Hauptinhalt springen

Für Putin und für das Vaterland

Von WZ-Korrespondentin Ina Hartwich

Europaarchiv
Gut bewacht: Das „ewige Feuer” brennt im Naschi-Lager in einem roten Stern.

20.000 Jugendliche werden am Seliger-See auf Kreml-Linie gebracht. | Auch Ausländer sind willkommen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Seliger. Sie ist eine "Auserwählte". Mit einem Lächeln auf den Lippen und ganz klaren Vorstellungen, was sie will. Im Leben, im Beruf. Rimma Tuktassynowa ist 22 Jahre alt und studiert Fernsehjournalistik im fernen Sibirien. "Das Leben ist eine Rolltreppe. Ich fahre schnurstracks nach oben", sagt sie.

So steht Rimma da zwischen hohen Kiefern und tausenden von Zelten in einem Wald auf halber Strecke zwischen Moskau und St. Peterburg, lässt sich gängeln und überwachen. Für ihren Traum vom Erfolg. Zusammen mit 20.000 Jugendlichen aus allen Teilen Russlands durchläuft sie das Seliger-Lager der russischen Regierung - ein neuntägiges Sommercamp in einem nordwestrussischen Seengebiet, das neben Lagerfeuer-Romantik vor allem streng getaktete Lehrstunden in Sachen Politik und Wirtschaft bietet. Direkt unter den Konterfeis des russischen Führungsduos Dmitri Medwedew und Wladimir Putin.

Das Leben von Auserwählten ist hart. Rimma hat es längst begriffen. Als Einzige aus ihrer Region hat sie das Aufnahmeverfahren überstanden, die regionale Verwaltung mit ihren Projekten überzeugt. Ruhe hat sie hier nicht gefunden. Sie hat sie auch nicht gesucht.

Pünktlich um 8 Uhr morgens ertönt die russische Hymne. Sie dröhnt aus den Lautsprechern im Wald. Plärrende Bässe folgen. "Los, Russland, los. Noch 15 Minuten bis zur Morgengymnastik." Rimmas Zelt steht am Rande des Lagers, zur Hauptbühne dauert es zehn Minuten. Im Laufschritt. Dort kreist die Animateurin mit den Hüften. Aerobic für die Mädchen, ein Vier-Kilometer-Waldlauf für die Burschen. "Ich hasse Sport", wird Rimma später sagen. Auf einer Plane hinter ihr beschwört Putin das "prosperierende Russland, das beste Land der Welt für die talentiertesten, selbstbewusstesten Bürger".

Ideologische Vorhut

Seit 2005 versammeln sich Tausende von Jugendlichen im Seliger-Lager, das die kremlnahe Jugendorganisation "Naschi" (Die Unsrigen) gegründet hat. Die Ursprungsidee: sich nicht nur ideologisch, sondern auch für den Straßenkampf zu stählen. Die "Naschi" sind ein polittechnologisches Projekt der Ära Putin, eine raffinierte Kopfgeburt des Staates vor dem Hintergrund der farbigen Revolutionen in der Ukraine und in Georgien. Aus Angst vor einer Massenmobilisierung gegen das bestehende Regime rief die Regierung, allen voran der Kreml-Ideologe Wladislaw Surkow, die "demokratische, antifaschistische Jugendbewegung" ins Leben und pumpte Milliarden Rubel in deren Wachstum.

Mittlerweile hat sich das Lager geöffnet. Dieses Jahr gibt es die Sektionen "Unternehmen", "Politik", "Internationales", "Informationskanäle", "Technologie der Wohltat". Seliger 2011 preist sich als Bildungs- und Innovationsforum, will ein fröhliches Gesicht Russlands zeigen. Kosten: rund fünf Millionen Euro. Die Jugendlichen zahlen gerade einmal umgerechnet 20 Euro. Ein günstiger Ausflug, auch für immer mehr Ausländer.

Die 21-jährige Brasilianerin Sarah Teixera Morello will hier vor allem Kontakte knüpfen. "Wenn wir später an der Macht sind, wird das für ein besseres Verständnis zwischen unseren Ländern sorgen." Noch setzt sie eher auf Körpersprache. "Hier spricht ja kaum ein Russe Englisch." Sie selbst kann nicht entziffern, dass auf den Plakaten quer durch den Wald von der Besonderheit des russischen Volkes die Rede ist, das sich durch Klugheit und Stärke von allen anderen unterscheide.

Nach einzelnen regionalen Sektionen geordnet, stehen die Zelte im Wald. Es werden Brei serviert und dünner Tee. Es gibt Kletterparcours, Volleyballfelder und Fußballspiele. Ein Internetcafé und Plasma-Bildschirme, die an den Bäumen hängen, spiegeln die Absurdität dieser Mischung aus Lagerfeuer-Romantik und hartem Programm. Wachposten sorgen dafür, dass die Jugendlichen ihre Vorlesungen besuchen, meist kommen Unternehmer und Politiker, berichten von ihrem Erfolg. Verstoßen die Camper gegen die Regeln - das Gelände allein verlassen, Alkohol hineinschmuggeln, nicht zur Morgengymnastik erscheinen -, gibt es ein Loch im Lagerausweis. Drei Löcher bedeuten den Rausschmiss. "Drill gehört dazu. Denn Disziplin ist wichtig im Leben", sagt Rimma, die Ehrgeizige. Und gewisse Werte. Familie, Kinder, Erfolg. "Sex ist schön und nützlich", heißt es im Lager. Neun Paare geben sich hier in einer Massenhochzeit das Ja-Wort.

"Manches ist wirklich fragwürdig", sagt der 23-jährige Pjotr Gussatschenko aus St. Petersburg. "Aber ich habe gelernt, vor allem Zweifelhaften die Augen zu verschließen, alles Negative zu verdrängen." Auch er - ein "Auserwählter", auf den das neue Russland baut.