Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Uzupio liegt am Rand der Altstadt von Vilnius. Einen schönen Blick gibt es hier: auf den kleinen Fluss Vilnia, auf die Kirchtürme des gotischen Ensembles von St. Annen- und Bernhardinerkirche. SchülerInnen kommen her, um an der befestigten Böschung Bier zu trinken, Gäste sitzen auf der Terrasse des Kaffeehauses bei der kleinen Brücke. Uzupio ist mehr als nur ein Stadtbezirk - es ist eine selbst ernannte Republik. Mit einer eigenen Verfassung, der zu Folge Menschen das Recht haben, Fehler zu machen und Hunde das Recht haben, Hunde zu sein. Ein paar hundert Menschen leben vielleicht in den teils verfallenden teils zu Galerien umfunktionierten Backsteinbauten: KünstlerInnen, Wochenendaussteiger. Einer davon ist Jurgis, der auf einem Baumstumpf vor Marias Galerie Bier trinkt. Er sei Geschäftsmann, sagt er, ohne es näher auszuführen. Unter der Woche lebt er woanders, geht seiner Arbeit nach. "Jeder muss doch arbeiten", erklärt Jurgis. Am Wochenende kommt er nach Uzupio. Maria wohnt ständig hier. Ihre Galerie ist derzeit nicht in Betrieb, sie wird renoviert. Es gebe dort nur notdürftige Stromversorgung, sonst nichts.
Auch die EinwohnerInnen von Uzupio sind morgen und übermorgen dazu aufgerufen, über einen EU-Beitritt Litauens zu entscheiden. "Vielleicht halten wir ein eigenes Referendum ab", überlegt Jurgis. Schwer zu sagen, ob er es ernst meint. Anders als Maria ist er jedenfalls gegen einen EU-Beitritt. "Wir brauchen die EU nicht", begründet er. "Aber die meisten sind wohl dafür. Oder besser gesagt: Es ist ihnen egal."
Genau das bereitet Regierung und Stadtverwaltung Kopfzerbrechen. Zwar hält sich die Zahl der BeitrittsbefürworterInnen in den letzten Monaten konstant bei über 60 Prozent und liegt der Prozentsatz der GegnerInnen bei 13. Doch die größere Hürde ist die Mindestbeteiligung: Über 50 Prozent der Wahlberechtigten müssen zu den Urnen gehen, damit die Abstimmung Gültigkeit besitzt. Und es gebe nicht einmal einen "Plan B", falls dies nicht geschehe, gesteht Klaudijus Maniokas vom EU-Kommitee der litauischen Regierung. "Über die Wahlbeteiligung sind wir besorgt", räumt er ein und gibt zwei Dinge zu bedenken. Zum einen haben sich an der Präsidentschaftswahl im Jänner lediglich 52 Prozent beteiligt. Zum anderen hätten laut Umfragen 70 Prozent die Absicht geäußert, zum Referendum zu gehen und nur 59 ihre Teilnahme zugesichert. Außerdem: Auch Umfragen ist nicht immer zu trauen. Ginge es nach ihnen, dürfte der Präsident Litauens nicht Rolandas Paksas heißen. Denn prognostiziert war die Wiederwahl von Valdas Adamkus.
Hinzu kommt, dass rund 200.000 LitauerInnen im Ausland leben. Nur ein kleiner Bruchteil von ihnen geht wählen - doch sie alle scheinen auf den Wählerlisten auf. Letztere zu korrigieren war ein weiteres Problem: Die Mobilität auch innerhalb Litauens war in den vergangenen Jahren hoch, und die Meldepflicht hat noch keine lange Tradition.
Etwaige Kritik an der Informationskampagne, die rund 1,5 Millionen Euro gekostet hat, lässt Maniokas hingegen nicht gelten. Seit vier Jahren werde über die EU berichtet, Fernsehen und Regionalpresse seien dazu eingesetzt worden, tausende Treffen und Veranstaltungen hätte es gegeben. Doch bei einigen Bevölkerungsgruppen fruchten die Bemühungen kaum. Die von den Umgestaltungen der letzten Jahren Enttäuschten, die Menschen, die nach dem Einzug der freien Marktwirtschaft ihren Platz in der Gesellschaft nicht mehr finden konnten, seien schwer zu erreichen. "Einige denken, dass es keinen Unterschied macht, ob Litauen der Europäischen Union beitritt oder nicht", erzählt Maniokas. "Sie glauben nicht, dass sich etwas für sie zum Guten ändert."
Im Parlament zumindest herrscht laut Gediminas Kirkilas Übereinstimmung: Der Beitritt zu EU und NATO sei eine Notwendigkeit für Litauen. Der Abgeordnete und Vorsitzende des Außenausschusses weiß aber, dass es noch viele Menschen zu mobilisieren gilt. "Es gibt viele EU-Skeptiker auf dem Land", berichtet er. Der Lebensstandard ist dort geringer, die Arbeitslosigkeit höher. Der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten ist hoch: rund 20 Prozent. Er müsse sowieso gesenkt werden. Doch was wäre Litauen ohne EU-Beitritt, fragt der Parlamentarier. Eine graue Zone zwischen EU-Staaten und Russland?
Für den Hotelbesitzer Vladas Grybas steht fest: "Wir gehören zu Europa und gehören in die Europäische Union." Immerhin liege der Mittelpunkt Europas gerade in Litauen. Nach Berechnungen eines französischen Geographen ist es 25 Kilometer nördlich von Vilnius, erzählt Grybas. Vor zehn Jahren hat der arbeitslos gewordene ehemalige Protokollchef des Rathauses die erste offizielle Privatunterkunft eröffnet. Mit Gutscheinen vom Staat hatte er das Haus, in dem er wohnte, gekauft - wie so viele andere LitauerInnen, die nach 1991 relativ günstig ihre Wohnungen erwerben konnten. Damals hatte er 200 Dollar gezahlt. Einige Jahre später, beim Kauf eines anderen Teils des Gebäudes, musste er schon 42.000 Dollar aufbringen. Angefangen hat es mit der Vermietung von zwei Zimmern: Unten wohnte die Familie, oben wurden die Gäste untergebracht. Ein nach Amerika ausgewanderter Bekannter überredete Grybas, auszubauen - und vermittelte einen günstigen Kredit. Zu dieser Zeit verlangten die litauischen Banken noch 35 Prozent Zinsen. Mittlerweile werden im Hotel zehn Zimmer vermietet. Und das Geschäft geht - trotz wachsender Konkurrenz großer Hotelketten - gut. Nächstes Jahr hat Grybas seinen Kredit abbezahlt.
"Es gibt für uns keinen anderen Weg als in die EU", erklärt er. "Andernfalls bewegen wir uns um zehn Jahre zurück, müssen uns wieder an den Osten anlehnen." Weg vom Osten, weg von Russland, an das die baltischen Republiken in Zeiten der Sowjetunion gebunden waren - das ist eines der Hauptargumente für den EU-Beitritt, die in Litauen wie in Lettland und Estland vorgebracht werden.
So ist es auch gut, wenn nun mehr Menschen nach Vilnius reisen - für Grybas und sein Geschäft sowie für das Land. Endlich könnten WesteuropäerInnen etwas über Litauen erfahren. Im Jahr 1983 kamen etwa 40.000 ausländische Gäste her, heuer waren es allein in den ersten drei Monaten so viele. Und wenn in den Straßen der Altstadt auffallend oft Polnisch zu hören ist, so sind es meist nicht Angehörige der Minderheit, die knapp sieben Prozent der Bevölkerung ausmacht. Es sind TouristInnen, die die mit der polnischen Geschichte eng verbundene litauische Hauptstadt besuchen oder mit Bussen zur Kapelle der Muttergottes im Ausros-Tor pilgern.
Im jüngeren Teil der Altstadt, an der Vokieciu gatve, komme ich mit den Wirtschaftsstudentinnen Ausra und Gerda ins Gespräch. Die Parkbänke auf der von der Straße umschlossenen Mittelinsel sind alle besetzt, die Menschen genießen die warmen Sonnenstrahlen nach dem verregneten April. Ausra und Gerda brauchen keine Sekunde zum Überlegen. Klar gehen sie zum Referendum, selbstverständlich werden sie mit Ja stimmen. Die Vorteile eines EU-Beitritts liegen für die beiden Studentinnen auf der Hand: Sie können innerhalb der EU ungehindert reisen, in anderen Städten studieren ohne höhere Gebühren zu zahlen. Es geht auch um bessere Arbeitsmöglichkeiten - im eigenen Land. Im Ausland würden sie zwar gern studieren, doch danach wieder nach Litauen zurückkommen. "Es gibt hier viel zu tun", sagt Gerda. Die Chancen, einen attraktiven Job zu bekommen, stehen für die beiden nicht schlecht. Zwar liegt die Beschäftigtenrate bei rund 89 Prozent, und in ländlichen Gebieten kann sogar ein Viertel der Bevölkerung arbeitslos sein. Doch gut ausgebildete Kräfte sind gesucht.
Vilnius mit seinen knapp 550.000 EinwohnerInnen und einer Arbeitslosenrate von rund 7 Prozent, sei für die Mitgliedschaft in der EU sicher bereit, meint Ausra. Auch wenn die StudentInnenheime sicher nicht europäischen Standards entsprechen, fügt Gerda lachend hinzu. Die Stromversorgung ist derart knapp bemessen, dass sie den Computer erst dann einschalten kann, wenn der Zimmernachbar seinen ausschaltet.
Gut, wahrscheinlich werden die Preise nach dem Beitritt steigen. Doch dafür wird es eine größere Auswahl, für jede Geldtasche, geben. Der Lebensstandard werde sich ebenfalls heben, sind die Studentinnen überzeugt. Allerdings werden jene, die gedacht haben, dass sich nach dem 1. Mai 2004 alles schlagartig verbessern werde, eine Überraschung erleben. "Die Leute sind leichtgläubig", erklärt Gerda. "Wer den Versprechen der Politiker Gehör geschenkt hat, könnte sich später getäuscht vorkommen." Dennoch streicht sie die Bedeutung des Beitritts hervor: "Das Erweiterung der EU war für Westeuropa eine Evolution. Für uns ist es eine Revolution."
Mit diesem Namen könnten aber schon die Umgestaltungsprozesse der letzten zwölf Jahre belegt werden. Es ist noch nicht lange her, dass sich Litauen seine Unabhängigkeit erkämpft hat. Die Barrikaden vor dem Parlament, wo im Jahr 1991 150.000 Menschen Wache hielten, sind teilweise erhalten geblieben. Bei der Besetzung des Rundfunkzentrums durch russische Militäreinheiten waren 14 Zivilist-Innen ums Leben gekommen. Doch die LitauerInnen ließen sich ihren Staat nicht mehr nehmen.
Mittlerweile ist die litauische Währung, Litas, an den Euro gebunden, sind über 90 Prozent aller ehemals staatlichen Betriebe privatisiert, gehört das Land zu den stärksten Wachstumsregionen Europas - wenn auch die Kaufkraft bei einem Viertel des österreichischen Niveaus liegt. Aber das BIP-Wachstum betrug im ersten Quartal des Jahres neun Prozent.
Bald wird dies wohl auch für die Republik Uzupio Auswirkungen haben. Grundstücksspekulanten und ImmobilienmaklerInnen kann die attraktive Lage des Viertels nicht verborgen bleiben. Wo jetzt bunte Farben bei Galerieeingängen den bröckelnden Verputz verdecken und in den Hinterhöfen Kinder mit verrosteten Fahrrädern spielen, könnten in einigen Jahren schmucke Lofts und repräsentative Anwaltskanzleien entstehen. Ihre Republik werden sich die EinwohnerInnen von Uzupio wohl nehmen lassen müssen.
Die Serie wird mit "Estland" fortgesetzt.