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Für viele ist die Welt der Schrift verschlossen

Von Eva Mandl

Wirtschaft

Wer nicht lesen und schreiben kann, findet sich nur schwer in seinem sozialen Umfeld und Berufsleben zurecht. Das europäische E-Learning-Programm BSOLE soll Abhilfe schaffen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 20 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Meine Tochter ist damit aufgewachsen. Sie dachte, alle Mütter können nicht lesen und schreiben." Wer die selbstbewusste Marianne K. sieht, glaubt nicht, dass die heute Vierzigjährige bis vor drei Jahren Analphabetin war. Die Hilfskraft in einem Blumengeschäft konnte zwar einzelne Buchstaben entziffern, aber den Zusammenhang verstand sie nicht. Ein Schicksal, mit dem Marianne K. nicht allein ist.

Funktionale Analphabeten

In Österreich leben rund 300.000 funktionale Analphabeten. Das sind Erwachsene mit deutscher Muttersprache, die trotz absolvierter Schulpflicht nicht ausreichend lesen und schreiben können.

"Manche Erwachsene kennen keine Buchstaben, manchen fehlen nur einzelne Buchstaben, sodass sie den Sinnzusammenhang der Wörter nicht verstehen," sagt Wolfgang Eisenreich von BEST Training, dem Institut für berufsbezogene Weiterbildung und Personaltraining im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Meister der Ausreden

Trotz mangelnder Schreib- und Lesekenntnisse schaffen Analphabeten, ihr Leben zu meistern - häufig ohne aufzufallen. Was andere notieren, lernen sie auswendig. Viele entwickeln eine ausgeprägte Konzentrations- und Merkfähigkeit. Sie lassen sich gefinkelte Ausreden einfallen, um nicht entlarvt zu werden: verbinden sich den Arm mit dicken Bandagen, bevor sie ein Amt betreten oder sagen, sie hätten die Brille vergessen, wenn sie den Fahrplan nicht entziffern können. "Sie täuschen Unpässlichkeiten vor, wollen sich keine Blöße geben," bestätigt Eisenreich. Für alle potentiell gefährlichen Situationen entwickeln sie Vermeidungsstrategien, die ein Aufdecken verhindern.

Für funktionale Analphabeten hat das Leben in einer Welt ohne Schrift gravierende soziale Konsequenzen, die von Schwierigkeiten im Alltag bis zu Nachteilen im Berufsleben reichen. Sie können keine Zeitung lesen, sitzen hilflos vor Stadtplänen, Bedienungsanleitungen und Kontoauszügen. Straßenschilder und Wahlzettel bleiben ein Rätsel. Im Restaurant bestellte Marianne K. immer das gleiche Menü wie ihre Begleitung. Verträge unterschrieb sie, ohne auch nur ein Wort gelesen zu haben. Die eigene Unterschrift hatte sie auswendig gelernt. Auf dem Arbeitsmarkt haben Analphabeten kaum Chancen. Für jeden Lehrberuf sind Lese- und Rechtschreibkenntnisse Voraussetzung. Was bleibt, sind Hilfs- und Anlerntätigkeiten. Im Blumengeschäft vermied Marianne K. zu schreiben, band stattdessen schweigsam Sträuße und galt als schüchterne Einzelgängerin. Bestellungen nahmen Kollegen entgegen. Um Lieferanten und Post kümmerte sich die Chefin. Das tägliche Versteckspiel und die ständige Angst, entdeckt und sozial geächtet zu werden, macht einsam.

Vielfältige Ursachen

Wie kann jemand, der jahrelang die Schulbank drückt, Analphabet sein? "Schulabschluss ist kein Garant für ausreichende Lese- und Schreibkompetenz", erklärt Eisenreich. "Wenn Lernschwächen in den ersten beiden Schuljahren nicht ernst genommen werden, sitzen die Kinder die Schulpflicht ab - ohne lesen und schreiben zu lernen." Schulprobleme, mangelnde individuelle Förderung und familiäre Konflikte sind häufige Ursachen. Oft kommen funktionale Analphabeten aus sozial schwachen Familien, in denen auch die Eltern nicht lesen und schreiben konnten.

Es ist nie zu spät

Meist bringen Lebenskrisen Betroffene dazu, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Bei Marianne K. war das nach der Scheidung der Fall. Plötzlich hatte sie niemanden, der ihr die Medikamentenbeipackzetteln vorlas und Formulare ausfüllte. Heute ist sie froh, dass sie ihren ganzen Mut zusammennahm und die Lese- und Rechtschreibkurse für Erwachsene an der Volkshochschule Floridsdorf absolvierte. Noch leichter und anonymer soll es in Zukunft für Analphabeten mit einem neuen E-Learning Programm werden. Das in Großbritannien entwickelte und erfolgreiche Lernprogramm auf Internetbasis, Target Skills, wird das Weiterbildungsinstitut BEST Training als BSOLE (Basic Skills On Line for Europe) für den Einsatz in Österreich und Deutschland adaptieren. In Kürze soll das Programm auch hier verfügbar sein. "BSOLE bietet Unterrichtsmaterialien für erwachsene Lernende mit Lese- und Schreibproblemen," sagt der Projektverantwortliche Eisenreich. Das EU-Büro eTEN zur Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten von Telekommunikationsnetzen am europäischen Markt hat das Alphabetisierungsprojekt BSOLE zum Projekt des Monats Juli 2004 gekürt. n

Kontakt & Information:

BEST Training, Institut für berufsbezogene Weiterbildung und Personaltraining GmbH, Telefon: 58550500, Dr. Wolfgang Eisenreich, wolfgang.eisenreich@best-training.com, http://www.best-training.com .

Volkshochschule Floridsdorf, Telefon 2724353-11, doberer-bey@vhs21.ac.at, http://www.vhs21.ac.at