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Eine Erinnerung an den deutschen Zeichner Emil Stumpp (1886-1941), dem ein Porträt Hitlers die Verfolgung durch die Nationalsozialisten einbrachte.
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"Er wollte den Geist der Epoche, den Sinn ihrer Anstrengungen aus dem menschlichen Antlitz ergründen. Seine Fähigkeit, das Einmalig-Unverwechselbare im Typus zu erfassen, und die Kunst, das Gesehene in kürzester Frist wiederzugeben, trugen ihm Beachtung und Anerkennung ein."
Mit diesen Worten beschreibt Kurt Schwaen in dem von ihm herausgegebenen Buch "Über meine Köpfe" die Arbeit des Porträtisten und Pressezeichners Emil Stumpp. In der Zeit der Weimarer Republik genoss der Künstler, der unermüdlich auf Reisen war und das Konterfei fast eines jeden, der im gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben in Europa Rang und Namen hatte, in Tausenden von Porträtzeichnungen aufs Papier bannte, großes Ansehen. Durch ein Hitler-Porträt, das den Nationalsozialisten missfiel, zog der Künstler, dessen Köpfe bis 1933 Artikel in den verschiedensten deutschsprachigen Zeitungen illustrierten, den Zorn der Nazis auf sich.

Am 17. Mai 1886 im badischen Neckarzimmern als Sohn eines Gärtners geboren, erlebte Emil Stumpp ab 1889 seine Kindheit und Jugendzeit in Worms am Rhein. Nach dem Abitur besuchte er 1904 für ein Semester die Karlsruher Kunstgewerbeschule, ehe er nach seinem einjährigen Militärdienst bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges Germanistik, Geschichte und Philosophie an den Universitäten Marburg, Berlin und Uppsala studierte.
Kunst- und Sportlehrer
Den Ersten Weltkrieg, während dem Stumpp wegen seiner offenen Kriegskritik zweimal inhaftiert, jedoch nach mehreren Verwundungen an vorderster Front in den Rang eines Leutnants erhoben wurde, durchlebte er mit dem Skizzenbuch im Tornister. Am Ende des Krieges in Ostpreußen beteiligte er sich am revolutionären Geschehen und wurde im November 1918 vom Arbeiter- und Soldatenrat zum Kommandanten des Königsberger Militärbahnhofs gewählt. Als im März 1919 die regierungstreuen Truppen wieder die Macht übernahmen, setzte man ihn ab und inhaftierte ihn für mehrere Wochen. Wieder in Freiheit, trat er eine Stelle an einem Gymniasium in Königsberg als Lehrer für Kunst und Sport an. Das Zeichnen, besonders von menschlichen Porträts, blieb ihm jedoch immer das Wichtigste.
Obwohl Stumpp seine Frau, die Schwedin Hedwig Glas, die er während des Studiums geheiratet hatte, und die gemeinsamen fünf Kinder versorgen musste, kündigte er 1924 seine sichere Beamtenstelle, weil er fortan als freischaffender Künstler arbeiten wollte. In Berlin richtete er sich ein Atelier ein, um im regen gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt nahe an den Objekten seiner zeichnerischen Begierde und nahe an den potenziellen Auftraggebern - den Verlagen und den großen Tages- und Wochenzeitungen - zu sein.

Stumpp hatte diesen Schritt zum richtigen Zeitpunkt getan, denn nach den entbehrungsreichen Jahren der Inflation entwickelte sich die Reichshauptstadt zu jener Metropole, mit der man heute die "Goldenen Zwanziger Jahre" verbindet. Die Presse der Stadt wirkte in dieser Zeit wie ein gewaltiger Magnet, der gierig Talente und Könner anzog. Mosse, Ullstein und Scherl, die drei großen Zeitungskonzerne Berlins, standen in fruchtbarem Wettbewerb. Hatten die Zeitungen während der Inflation aus Geldmangel weitgehend auf Illustrationen verzichtet, drängten jetzt die bildlichen Elemente stark in die Blätter. Da die technischen Möglichkeiten der photographischen Reproduktion noch sehr beschränkt waren, bot sich Pressezeichnern bei den 45 Morgen-, 2 Mittags-, 14 Abendzeitungen und zahlreichen Illustrierten ein weites Betätigungsfeld.
Emil Orlik hatte schon während des Weltkrieges die Porträtskizze und -karikatur zu neuer Blüte gebracht, es folgten Künstler wie Rudolf Grossmann, Benedikt Fred Dolbin oder eben Emil Stumpp, den seine rasche Auffassungsgabe und sein Schnelligkeit gewohnter Zeichenstift bis 1933 zu einem der bekanntesten Vertreter seines Fachs machten. Thomas Mann und Kurt Tucholsky äußerten sich bewundernd über Stumpps Zeichnungen - und auch die Künstlerkollegen Heinrich Zille oder George Grosz schätzten die Arbeiten des Porträtisten.

Rund 20.000 Porträts
Fast täglich sollten Stumpps Porträts, für die er fast immer die Technik der Lithographie wählte, in den Jahren bis 1933 in den verschiedensten Zeitungen erscheinen. Obwohl er auch eine große Zahl von Stadt- und Landschaftsansichten malte und zeichnete, war das graphische menschliche Porträt die eigentliche Domäne des Künstlers. Dabei war das instinktive Erfassen der zu porträtierenden Person seine besondere Stärke. Die von ihm aufs Papier gebrachte Physiognomik sei, so hieß es zu seiner Zeit, so sicher, "dass wir diese Köpfe nur noch mit seinem Auge zu sehen vermögen".
Stumpp, der auf der "Jagd" nach seinen Modellen rastlos unterwegs war, traf und zeichnete während seiner ausgedehnten Reisen durch ganz Europa fast alle, die in Literatur, Kunst, Politik, Wissenschaft, Schauspielerei und Sport Rang und Namen hatten. Rund 20.000 Porträts weist sein uvre auf: Darunter sind die Konterfeis von Schriftstellern wie Gottfried Benn, Bert Brecht, Max Brod, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Franz Werfel, Arnolt Bronnen, Lion Feuchtwanger, Thomas und Heinrich Mann, Erich Kästner, Künstlern wie Edvard Munch, Lovis Corinth, Max Slevogt, Max Liebermann, Otto Dix, George Grosz, Käthe Kollwitz, Musikern wie Igor Strawinsky oder Alban Berg, Schauspielern wie Tilla Durieux, Max Pallenberg und Attila Hörbiger, Politikern wie Friedrich Ebert, Gustav Stresemann und Franklin D. Roosevelt oder Sportlern wie Max Schmeling oder der ganzen österreichischen Eishockey-Nationalmannschaft.
Eine Besonderheit der Porträtgraphiken Emil Stumpps, der seinen Modellen, gleich welchen Standes sie waren, stets in der für ihn typischen Wanderburschenkleidung entgegentrat, ist es, dass neben dem Künstler fast immer auch der Porträtierte seine Signatur unter sein Antlitz setzte. Stumpp ließ die Zeichnung sozusagen gegenzeichnen.
Einer der Hauptabnehmer von Stumpps Arbeiten war der linksliberale "Dortmunder Generalanzeiger", der während der Weimarer Republik als größte deutsche Tageszeitung außerhalb Berlins und als Blatt mit der zweitstärksten Auflage in Deutschland ein wichtiges, dem Pazifismus zuneigendes linksbürgerliches Presseorgan war, an dem unter anderem Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky mitarbeiteten.

Das Dortmunder Blatt war es auch, das an Hitlers Geburtstag am 20. April 1933 jenes gar nicht heldenhaft daherkommende, ihn grimmig im kantigen Profil zeigende, "nach dem Leben gezeichnete" Hitlerporträt Emil Stumpps abdruckte, das die Nationalsozialisten als "Verhöhnung" und "böswillige Karikatur des Führers" so erzürnte, dass sie sofort ein Berufsverbot gegen den Zeichner aussprachen, die Zeitung beschlagnahmten und ihr gesamtes Betriebsvermögen einzogen. In Deutschland zur Untätigkeit verdammt, war Stumpp, der zahlreiche europäische Sprachen beherrschte, in den Jahren 1934 bis 1940 ständig auf Auslandsreisen durch Europa unterwegs, häufig in Schweden, der Heimat seiner Frau, und in der Tschechoslowakei. Auf den Touren, die ihn bis nach Nordafrika führten, verdiente er sein "Reisegeld" durch das Zeichnen von Porträts von begüterten wie von armen Menschen und von Landschaftsbildern, die er sofort vor Ort verkaufte.
Mit diesen Einkünften bestritt er den Unterhalt für seine fünf Kinder und seine Schwester Julie, die nach dem Tod seiner Frau 1928 die Betreuung der Kinder übernommen hatte. "Es liegt etwas Beruhigendes darin, daß man sich so durchschlagen könnte", notierte Stumpp, der trotz der schwierigen Situation nie verzagte, 1935 während einer Spanienreise in sein Tagebuch.
Denunziation

Zur Beerdigung einer seiner Töchter kehrte Emil Stumpp 1940 aus Schweden nach Deutschland zurück. Seine Unterhaltung mit zwei französischen Kriegsgefangenen, mit denen er Adressen austauschte, und sein Disput mit dem Bürgermeister von Perwelk auf der Kurischen Nehrung über die politische Lage in Deutschland sollten ihm schließlich zum Verhängnis werden. Nach der Denunziation durch den Bürgermeister bei der Gestapo wurde Stumpp am 2. Oktober 1940 verhaftet und in Memel am 14. Jänner 1941 wegen "Vergehens gegen das Heimtückegesetz und verbotenem Umgang mit 2 Kriegsgefangenen" zu einem Jahr Haft verurteilt. Im März folgte, nachdem ein Entlassungsersuchen wegen seines schlechten Gesundheitszustandes abgelehnt worden war, seine Verlegung aus dem Gefängnis in Königsberg in die Haftanstalt Stuhm in Westpreußen, wo Emil Stumpp, dem man das Zeichnen verboten hatte, am 5. April 1941 im Alter von 55 Jahren an den Folgen der elenden Haftbedingungen starb.
Der Schriftsteller Ernst Wiechert, der zeitweise ein Lehrerkollege des Zeichners am Königsberger Gymnasium gewesen war, erinnerte sich später an Emil Stumpp, dessen Porträts auch in unseren Tagen nicht selten zur Illustration neu erscheinender Publikationen zur Geschichte des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts herangezogen werden, dessen Name aber weitgehend aus dem Gedächtnis gefallen ist: "Er war ein überzeugter Sozialist und ein Mensch mit eigenen Gedanken, ein furchtloser und makelloser Charakter . . . Stumpp war einer der ganz wenigen treuen Freunde, auf die man wie auf einen Felsen bauen konnte."
Oliver Bentz, geb. 1969, lebt als Germanist, Ausstellungskurator und Kulturpublizist in Speyer.
Unter dem Titel "Emil Stumpp - Köpfe der Weimarer Republik" kuratiert der Autor dieses Beitrages im Schloss Kleinniedesheim, im Südwesten Deutschlands, eine vom 12. August bis 2. September 2018 laufende Ausstellung, in der Porträtzeichnungen des Künstlers von Repräsentanten aus Politik, Kunst und Gesellschaft aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gezeigt werden.