Das Vorrunden-Geplänkel ist endgültig Geschichte: Mit den an diesem Wochenende beginnenden Achtelfinalpartien tritt die Fußball-WM in Deutschland in ihre entscheidende Phase. Höchste Zeit für ein erstes Zwischenresumee.
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Die größte Überraschung dieses Turniers sind zweifellos die Deutschen. Und das ist nicht nur fußballerisch gemeint. Ausgerechnet das Volk der Dichter und Denker entdeckt in diesen Tagen die Leichtigkeit des nationalen Seins für sich. Dem Fußball sei Dank, freuen sich geschätzte 80 Millionen Deutsche in einem Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen ihres Deutschseins ohne Hintergedanken. Und sogar das diesbezüglich stets wachsame bundesdeutsche Feuilleton nimmt dies mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen und aufatmender Erleichterung zur Kenntnis.
Für das nationalstaatliche Eigenmarketing des noch immer von vielen ob seiner geballten Machtpotenziale misstrauisch beäugten Deutschland leistet diese WM mehr, als dies auch noch so viele Scheckübergaben außenpolitisch jemals bewirken könnten. "Die Welt zu Gast bei Freunden", der Slogan dieser WM, scheint tatsächlich Wirklichkeit zu werden. Vom "hässlichen Deutschen", diesem medialen Zerrbild, das in so vielen europäischen "Partnerländern" inbrünstig gehegt und gepflegt wird, ist - zumindest bis dato - nichts zu sehen oder hören.
Das ist nicht zuletzt auch das Verdienst der deutschen Nationalmannschaft. Die hat sich unter Jürgen Klinsmann von der frustrierend-unansehnlichen Spielkultur der Vergangenheit befreit und präsentierte sich in den Vorrundenspielen recht erfolgreich als Vertreterin eines jugendlich-offensiven Spaßfußballs. An der Freude der eigenen Fans kann man nun erkennen, dass offensichtlich nicht nur der Rest der Welt, sondern auch die Deutschen selbst die Nase voll vom Teutonen-Kick der vergangenen Jahre hatten.
Die laufende WM spiegelt aber noch einen erstaunlichen Paradigmen-Wechsel wider: Weder Ronaldinho, Schewtschenko, Totti, Ballack, Riquelme noch Beckham oder wie die begnadeten Fußballgötter sonst noch alle heißen mögen, vermochten dem Turnier bisher ihren Stempel aufzudrücken. Das Kollektiv sticht die Primgeiger bisher aus. Argentiniens wunderbare Stärke liegt im Konzept - und selbst die Genialität verteilt sich hier auf viele Beine. Das Gleiche gilt für Brasilien, dem anderen großen Favoriten auf den WM-Titel.
Aus dieser Entwicklung speisen sich wohl auch die deutschen Hoffnungen auf einen Erfolgslauf ihres Teams. Und sollte Klinsmanns Truppe am Samstag gegen die Schweden am Ende doch noch den Kürzeren ziehen, verabschiedet sich die Heimmannschaft zumindest mit einem kräftigen Sympathie-Bonus. Auch wenn es das erste Mal wäre, dass eine deutsche Fußball-Nationalmannschaft bereits im Achtelfinale den Hut nehmen muss. Die Mühlen der Fußball-Gerechtigkeit mahlen manchmal eben langsam.